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       # taz.de -- US-Trans-Aktivist:in über neue Gesetze: „Wegen dieses Urteils werden Menschen sterben“
       
       > US-Bundesstaaten dürfen laut Gerichtsurteil Geschlechtsangleichung bei
       > Jugendlichen verbieten. Für einen Elternteil eines trans Sohnes eine
       > Katastrophe.
       
   IMG Bild: Eine Aktivistin aus Tennessee auf der World Pride Parade, die im Juni in Washington stattfand
       
       taz: Bean Chapman, nirgendwo in den USA wurden in den letzten Jahren so
       viele Gesetze gegen die LGBTQI+-Community verabschiedet wie in Ihrem
       Heimatstaat Tennessee im Südosten der USA. Wie geht es Ihnen als Familie? 
       
       Bean Chapman: Ich lebe in ständiger Angst, dass jemand meinem Sohn etwas
       antun könnte. Dabei wohnt er seit fünf Jahren nicht mehr in unserer Stadt.
       Er ist Einzelkind und unser Ein und Alles. Aber für uns als Familie war
       klar, dass er hier nicht bleiben kann. Er studiert Tausende Kilometer weit
       weg an der Westküste. Dort hat er Zugang zu geschlechtsangleichender
       medizinischer Versorgung. Ich möchte nicht zu viele Details über ihn
       preisgeben. Wenn er sich ein paar Tage nicht meldet, male ich mir die
       schlimmsten Szenarien aus. Ich hoffe, dass wir im nächsten halben Jahr in
       seine Nähe ziehen können.
       
       taz: Seit Trumps zweiter Amtszeit hat sich die Situation für trans Menschen
       insbesondere in Tennessee verschärft. 
       
       Chapman: Es gibt mehr offenes Mobbing, und es findet ein
       Normalisierungsprozess statt. Politiker beschimpfen trans Menschen jetzt
       offen im Kongress und niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Wir
       erleben einen Exodus von Familien mit trans Kindern. Sie ziehen in andere
       Bundesstaaten, nach Kanada, Puerto Rico, Panama. Wer genug Geld hat, auch
       nach Europa, etwa Spanien und Portugal. Viele Eltern sind verzweifelt und
       tun alles, um ihre Kinder zu schützen. Es gibt Jugendliche, die sich das
       Leben genommen haben. [1][Konversionstherapie] ist legal in Tennessee.
       Manche Eltern zwingen ihre Kinder dazu.
       
       taz: War das politische Klima anders, als Ihr Kind sich outete? 
       
       Chapman: Mein Sohn hatte sein Outing, als er 14 Jahre alt war. Wäre die
       Lage in Tennessee damals so gewesen wie heute, wären wir sofort
       weggegangen. Queere Menschen haben immer mehr Angst um ihre körperliche
       Unversehrtheit. Vor Kurzem besuchte er uns, weil ich eine Operation hatte.
       Er sagte: „Ich will hier keinen Tag länger bleiben als nötig.“
       
       taz: Gleichzeitig gibt es heute mehr Sensibilität für das Thema. 
       
       Chapman: Das stimmt. Wenn ich neun Jahre zurückdenke, ist die Sichtbarkeit
       heute eine ganz andere. Wir hatten damals keine Ahnung, was zu tun ist, und
       haben endlos recherchiert. Als Erstes machten wir uns auf die Suche nach
       anderen Menschen, die trans Kinder hatten. Eine Stunde entfernt von hier
       fanden wir eine Gruppe für LGBTQ-Familien. Der Kinderarzt unseres Sohnes
       war zwar großartig, hatte aber keine Erfahrung mit solchen Situationen. Die
       Schule war überfordert, weil sich noch nie ein trans Jugendlicher geoutet
       hatte. Heute vernetzen sich Familien über Facebook, man trifft sich zum
       Picknicken, es gibt Listen mit Friseursalons und Ärzten, die für trans
       Jugendliche sensibilisiert sind.
       
       taz: Die Suizidalität bei trans Menschen ist auch ohne feindselige Gesetze
       sehr hoch. Wie wirkt das politische Klima auf das Leben von trans
       Jugendlichen? 
       
       Chapman: Schon Ende 2024 hatten wir hier im Bundesstaat 22 Gesetze, die
       queere und trans Menschen angreifen, und im Moment ist unser Gouverneur
       dabei, weitere zu verabschieden. Diese Gesetze sind oft mit Absicht vage
       formuliert und lassen Spielraum, den Schule und Polizei nach ihrer eigenen
       Interpretation nutzen können. Es geht de facto darum, ein Klima der Angst
       im Klassenzimmer zu schaffen. Letztes Jahr wurde das „Don’t Say
       Trans“-Gesetz erlassen. Seitdem sind Transgender-Themen in Schulen
       verboten.
       
       taz: Sind Gesetze dieser Art zur symbolischen Abschreckung gedacht? Oder
       manifestieren sie sich tatsächlich im Schulalltag? 
       
       Chapman: Wenn Lehrer:innen von Schüler:innen gebeten werden, sie mit
       ihrem gewählten Namen oder Pronomen anzusprechen, oder sie die Toilette des
       Geschlechts nutzen wollen, mit dem sie sich identifizieren, sind
       Lehrer:innen qua Gesetz verpflichtet, die Verwaltung der Schule zu
       informieren. Die muss beide Elternteile informieren. So entsteht eine
       Kultur des Denunziantentums und der Überwachung: „Gender Policing“. Dabei
       gibt es gerade zum Thema Pronomenbenutzung Studien, die belegen, dass eine
       Namensänderung und die Verwendung von anderen Pronomen einen riesigen
       Effekt auf das Wohlbefinden eines Jugendlichen haben kann. Das kostet kein
       Geld und bedarf keines medizinischen Eingriffs, verringert aber das Risiko
       eines Suizids. Wenn du unseren Politikern zuhörst, klingt es so, als ob
       eine Epidemie von trans Kindern ausgebrochen wäre, die alle nach
       Pubertätsblockern dürsten. Tatsächlich geht es um einen winzigen Bruchteil.
       Was diese Kinder brauchen, ist Liebe, Wertschätzung und Anerkennung. Nur
       sehr wenige wollen eine Hormonbehandlung.
       
       taz: Auch die Lehrkräfte bringt das in eine unmögliche Lage. 
       
       Chapman: Bei weniger als der Hälfte aller Jugendlichen, die sich als trans
       oder nichtbinär identifizieren, wissen beide Elternteile Bescheid. Oft ist
       nur eine:r die Vertrauensperson. Bei einem Drittel aller Jugendlichen, die
       Angst haben, sich zu Hause zu outen, weiß eine Lehrkraft Bescheid. Oft hat
       diese Person eine Schlüsselfunktion. Sie signalisiert: Hier in der Schule
       kannst du sein, wer du bist, wenn das zu Hause nicht geht. Jetzt befinden
       wir uns in einer Situation, in der sich Lehrer dazu genötigt sehen, Gesetze
       zu brechen, um ihre Schüler:innen zu schützen.
       
       taz: Gibt es einen Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Schulen? 
       
       Chapman: Was an öffentlichen Schulen gilt, wurde in einem separaten Gesetz
       auch für Privatschulen, Internate und Ferienlager durchgesetzt. Es
       verlangt, dass trans Kinder und trans Jugendliche dort nur die Toiletten
       und Umkleidebereiche benutzen dürfen, die ihrem bei der Geburt zugewiesenen
       biologischen Geschlecht entsprechen. Viele Eltern unterrichten ihre Kinder
       jetzt zu Hause. Aber viele Materialien für den Unterricht zu Hause sind auf
       christliche Erziehung ausgerichtet. Jetzt stehen sie vor der
       Herausforderung, diese anzupassen.
       
       taz: Hinter den Angriffen stehen mächtige Lobbygruppen. 
       
       Chapman: Und zwar immer von evangelikalen Christen. Die größte Organisation
       ist die Heritage Foundation, die ihre Finger überall im Spiel hat. In die
       Gesetzesanträge fließen Millionen Dollar. Und es wird mit
       „Wine-and-dine“-Bestechungsstrategien gearbeitet. Sie umgarnen Politiker so
       lange, bis sie bekommen, was sie wollen. Diese Leute gehen extrem schlau
       vor. In Tennessee ist die lokale Berichterstattung schwach. Einiges wird
       fast unbemerkt durchgesetzt.
       
       taz: Tennessee wurde zum Präzedenzfall. Der Staat verbietet Hormontherapien
       und Pubertätsblocker für trans Jugendliche. Seit 2021 haben 24
       US-Bundesstaaten ähnliche Verbote verabschiedet. Am Mittwoch hat das
       Oberste Gericht ein Urteil gesprochen: Das Verbot zur Behandlung von
       Kindern und Jugendlichen, die unter Geschlechtsdysphorie leiden, sei
       rechtmäßig. Erstens diskriminiere das Gesetz von Tennessee trans Personen
       nicht aufgrund ihres Geschlechts. In der medizinischen Wissenschaft werde
       zweitens über Nutzen und Risiken solcher Therapien gestritten. 
       
       Chapman: Da der Oberste Gerichtshof das Gesetz in vollem Umfang bestätigt
       hat, öffnet dies jedem Bundesstaat die Tür für die Verabschiedung solcher
       gefährlichen Gesetze, die in Zukunft möglicherweise auch das Verbot der
       Gesundheitsversorgung für trans Erwachsene beinhalten werden, die so ihre
       einzige Möglichkeit der Gesundheitsversorgung verlieren würden. Es ist
       erwiesen, dass geschlechtsbejahende medizinische und psychologische
       Behandlung Leben rettet und das psychische Wohlergehen verbessert. Das
       sehen auch zwei der großen medizinischen Vereinigungen in den USA so, die
       American Academy of Pediatrics und die American Medical Association. Das
       ist ein traumatischer Tag für trans Jugendliche und ihre Familien, für uns
       ist das ein katastrophales Urteil. Menschen werden wegen dieses Urteils
       sterben.
       
       taz: Sie sind selbst nichtbinär. Hängt die Geschlechtsangleichung Ihres
       Sohnes auch mit Ihrer eigenen Identität zusammen? 
       
       Chapman: Ja, weil wir als Familie einen Ort geschaffen haben, an dem man
       sich selbst entdecken kann. Nicht den Erwartungen anderer zu entsprechen,
       war eine der größten Herausforderungen in meinem Leben. Das Geschlecht
       kommt allem in die Quere, wenn man es zulässt. Ich wollte das nicht für
       mein Kind. Es brauchte mehr als zwanzig Jahre Elternschaft,
       geschlechtsangleichende Operationen und neun Jahre LGBTQ-Aktivismus, um den
       richtigen Namen für meine eigene Identität zu finden. Es ist ein Glück, ein
       trans Kind erziehen zu dürfen. So viele mutige junge trans Menschen
       kennenzulernen, war ein Geschenk. Wenn sie so mutig sind, ihre Identität
       laut zu leben, dann kann ich das auch tun.
       
       22 Jun 2025
       
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