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       # taz.de -- Irrsinn des Alltags: Wie viel Krieg ertragen wir?
       
       > Inmitten der Nachrichten über Krieg und Zerstörung lautet das Dilemma:
       > Wer zu lange hinsieht, wird stumpf. Wer zu lange wegsieht, wird kalt.
       
   IMG Bild: Nachwirkung der russischen Drohnen- und Raketenangriffe in Kiew, am 17.6.2025
       
       Genau genommen ist es eine Lüge, dass die Welt in ihrem derzeitigen Zustand
       unerträglich ist. Ich ertrage sie schließlich – die russischen Luftangriffe
       auf Kyjiw, die brennenden Zeltlager in Gaza, die Hungersnot in Sudan.
       
       An [1][einem durchschnittlichen Werktag im Juni 2025 lauten die
       Nachrichten]: Iranische Rakete trifft israelisches Krankenhaus, Israel
       greift iranische Atomanlage an, Putin warnt Deutschland vor
       Taurus-Lieferungen an die Ukraine, bei der Verteilung von Hilfsgütern in
       Gaza erschießen israelische Soldaten Zivilisten, heute meist sonnig bei 24
       Grad. Im Internet teilen mehr oder weniger Betroffene ihre Wut, ihre Angst
       und ihre gebrochenen Herzen. Ständig beklagt jemand „ohrenbetäubendes
       Schweigen“. An einem durchschnittlichen Werktag betrachte ich das Leid der
       Einen und der Anderen, abwechselnd, in 12- bis 20-sekündigen Videos. Ich
       soll auf eine Demo gehen, ich soll mich solidarisch zeigen. Ich soll
       irgendwo Zionisten hassen und wäre irgendwo anders Antisemitin, wenn ich
       Netanjahu einen Völkermord unterstellen würde. Zwischendurch trinke ich
       Cappuccino. Manchmal klicke ich auf einen Spendenlink.
       
       Mir ist die Welt unbegreiflich geworden in einem Ausmaß, mit dem ich nicht
       umzugehen weiß. Früher habe ich aufgeschrieben, was ich nicht fassen
       konnte. Meistens ergab es hinterher mindestens ein bisschen Sinn. Aber
       Krieg an sich ist nun mal sinnlos, obwohl man im ganz realen Kriegszustand
       natürlich sinnvollere oder weniger sinnvolle Entscheidungen treffen kann.
       Im Angesicht dieser Umstände und der fortschreitenden Trumpisierung werden
       meine sinnsuchenden Worte allerdings zu Brei. Manchmal denke ich, ich
       müsste trotzdem etwas tun – wenigstens schreiben, dass das Völkerrecht über
       dem Recht des Stärkeren steht. Dass Krieg kein Tennisturnier ist und kein
       Mensch ein Kollateralschaden. Dass wir alle noch mal [2][Susan Sontag lesen
       sollten], um zu lernen, was es mit uns macht, ständig all dieses Leid
       anzusehen. Aber meistens denke ich: Das ist doch alles schon gesagt. Und
       ich fürchte, dass eine politische Autorin, die etwas anderes will, als
       Recht haben, in diesen Zeiten eigentlich nur scheitern kann.
       
       ## Wer still ist, ist nicht gleich unpolitisch
       
       Die meisten von uns ertragen das Unerträgliche seit Monaten aus der zweiten
       oder dritten Reihe. Obwohl der Krieg unheimlich nahe rückt, ist er doch
       nicht wirklich hier. Ich kauere nicht in Luftschutzbunkern, ich kann
       Raketen und Flugabwehrgeschosse nicht am Klang unterscheiden, ich verliere
       keine Häuser, keine Verwandten und keine Gliedmaßen. Folglich, so werfe ich
       es mir regelmäßig vor, müsste ich ihm und all den Menschen in der ersten
       Reihe doch wenigstens meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Aber ich
       will nichts mehr wissen vom Krieg, vom Sondervermögen, [3][von
       Wehrpflicht], von Haubitzen. Es ist mir egal, welcher 55-jährige Politiker
       heute sofort für sein Land kämpfen würde, und ich habe keine Lust,
       militärstrategische Debatten zu lesen, die katastrophengeil über den
       nächsten Schachzug von Kriegspartei A und B spekulieren, als handelte es
       sich um das Staffelfinale einer Netflix-Serie. Ich will nicht teilhaben an
       der humanitären und moralischen Entgrenzung, auch nicht, indem ich
       pausenlos gegen sie protestiere. Aber einfach aufgeben und nichts tun will
       ich auch nicht.
       
       Das gegenwärtige Dilemma des Menschseins lautet: Wer zu lange hinsieht,
       wird stumpf. Wer zu lange wegsieht, wird kalt. Also hängen wir im Limbo
       dazwischen, setzen die Nachrichtendosis mal rauf, mal runter, fühlen uns
       wahlweise hilflos, unnütz, ungenügend.
       
       Ich weiß, dass ich mit diesem Gefühl nicht alleine bin. Viele, deren
       politische Gedanken ich in den vergangenen Jahren geschätzt habe, sind
       gerade relativ still. Ich denke nicht, dass sie plötzlich alle unpolitisch
       geworden sind. Ich stelle mir vor, dass sie nachdenken, bevor sie schreiben
       und sprechen, dass sie sich Zeit nehmen und um Präzision bemühen wollen.
       Dass sie neue Räume bauen, in denen die Dinge wieder Sinn ergeben dürfen.
       Dass manche Workshops in Schulen geben oder im Orchester spielen, dass sie
       Kunst, Politik oder einfach mal Pause machen. Darüber wäre ich froh. Es
       würde bedeuten, dass sie sich erhalten, sie selbst zu sein.
       
       Vielleicht brauchen wir ja genau diese Teile von uns, damit so etwas wie
       Frieden überhaupt vorstellbar bleibt.
       
       21 Jun 2025
       
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