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       # taz.de -- Schärfere Gesetze für psychisch Kranke: Gegen Depression und Vorurteile auf Tour
       
       > Bei der „Mut-Tour“ klären Betroffene auf. Die Politik will die Gesetze
       > für psychisch Kranke verschärfen. Mediziner wünscht sich bessere
       > Vorsorge.
       
   IMG Bild: Radeln für Aufmerksamkeit: Mut-Tour
       
       Itzehoe taz | Unter Beifall fahren Eva Maslanka und Anaïs Braun auf ihren
       Tandem-Rädern in die Fußgängerzone der Kreisstadt Itzehoe ein. Dort wartet
       bereits eine Gruppe auf die Teilnehmenden der „Mut-Tour“, einer Aktion des
       Vereins „Mut fördern“.
       
       Die Rad-Rund-Reise, die im Mai in Bochum begann und im September in Rostock
       enden soll, will über die Volkskrankheit Depression aufklären. Die Etappe
       durch Norddeutschland startete in Bremen, wo sich zeitgleich die
       Innenministerkonferenz mit der „Zunahme von schweren Gewalttaten durch
       psychisch kranke Personen“, so der Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD),
       befasste.
       
       Seit 15 Jahren durchlebe sie depressive Phasen, berichtet Eva Maslanka. Die
       33-Jährige, die aus der Nähe von München stammt, radelt bei der Mut-Tour
       mit, weil es gut tue, sich in einer Community von Betroffenen zu
       engagieren: „Ich habe schon tolle Leute kennengelernt, die trotz Krankheit
       saucool drauf sind.“ Wichtig ist die Selbsthilfe auch, weil es bei Ausbruch
       einer Depression oft lange dauert, die richtigen Hilfen oder Therapieplätze
       zu bekommen.
       
       Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention erkrankt
       etwa jeder fünfte Erwachsene in Deutschland im Lauf seines Lebens einmal an
       einer Depression. Trotz dieser weiten Verbreitung und obwohl sich in den
       vergangenen Jahren mehrere Prominente als betroffen geoutet haben, halten
       sich hartnäckige Klischees über die Krankheit.
       
       ## Das Tabu schrumpft
       
       „Die Scham und die Selbst-Stigmatisierung sind groß“, sagt Anaïs Braun.
       Auch sie habe ihre Diagnose lange verschwiegen. „Ich bin eine
       hoch-funktionale Depressive, ich kann in einer schlechten Phase weiter zur
       Arbeit gehen, auch wenn ich hinterher erschöpft bin.“
       
       Inzwischen spricht die 32-jährige Sozialarbeiterin über die Krankheit und
       fährt darum auch bei der Mut-Tour mit: „Wenn wir in einer Fußgängerzone
       stehen, passiert es immer wieder, dass Menschen sich auf einmal öffnen und
       von eigenen Erfahrungen berichten.“ Es sei wichtig, ein Angebot für solche
       Gespräche zu machen.
       
       Insgesamt schrumpfe das Tabu, über psychische Krankheiten zu sprechen, sagt
       Jens Reimer, Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Klinikum
       Itzehoe, der zum Empfang der Mut-Tour in die Fußgängerzone gekommen ist.
       Sorge mache ihm aber die öffentliche Debatte, die nach Taten wie der
       Messerattacke am Hamburger Hauptbahnhof folge.
       
       Die mutmaßliche Täterin war am Vortag aus einer psychiatrischen Einrichtung
       entlassen worden. „Es besteht die Gefahr, dass psychische Krankheit mit
       Gefahr gleichgesetzt wird“, sagt die Mediziner. „Dabei werden [1][psychisch
       Kranke weit öfter Opfer von Gewalt], als dass sie selbst gewalttätig sind.“
       
       Doch die Politik will angesichts einer Reihe von Gewalttaten, die Personen
       mit psychiatrischen Diagnosen angelastet werden, die Regeln verschärfen.
       Laut einer Pressemitteilung des Bremer Innensenators sollen künftig
       „medizinische und sicherheitsbehördliche Erkenntnisse“ zusammengebracht und
       „relevante Erkenntnisse zu [2][psychischen Erkrankungen] den zuständigen
       Behörden, das heißt eben auch der Polizei, zugänglich“ gemacht werden.
       
       Der [3][Beschluss der Innenministerkonferenz] sieht darüber hinaus vor,
       dass [4][potentiell gefährliche psychisch Kranke] verpflichtet werden
       können, Medikamente zu nehmen oder eine Therapie anzufangen. Dazu müssen
       die entsprechenden Landesgesetze geändert werden.
       
       ## Mediziner wünscht sich bessere Vorsorge
       
       Der Arzt Reimer wünscht sich statt schärferen Gesetzen bessere Vorsorge.
       Zudem könnten sich die Behandlungsmethoden ändern: „Statt 100 Stunden
       Therapie hilft manchen vielleicht auch ein Vier-Tage-Intensiv-Seminar.“
       
       In Schleswig-Holstein gibt es in mehreren Kreisen so genannten regionale
       Budgets für die Psychiatrie. Damit darf eine Klinik Patient:innen
       ambulant weiterbehandeln, etwa in Tagestreffs oder bei Hausbesuchen. Damit
       ließen sich Drehtür-Effekte vermeiden, sagt Reimer. Wichtig sei aber auch,
       weiter [5][über psychische Krankheiten aufzuklären].
       
       Das sieht auch Anaïs Braun so: „Wenn wir pro Tag nur eine Person von einem
       [6][Vorurteil abbringen oder sie dazu bringen, sich Hilfe zu suchen], haben
       wir viel erreicht.“
       
       27 Jun 2025
       
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   DIR [3] https://www.senatspressestelle.bremen.de/pressemitteilungen/80-beschluesse-auf-der-fruehjahrs-imk-470248?asl=bremen02.c.732.de
   DIR [4] /Streit-um-Anerkennung-in-Hamburg/!6093193
   DIR [5] https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/was-ist-eine-depression/haeufigkeit
   DIR [6] https://mut-foerdern.de/initiativen-mut-tour/
       
       ## AUTOREN
       
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