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       # taz.de -- Politische Gefangene in Belarus: Trump und Lukaschenko, ein abgekartetes Spiel
       
       > Belarus’ bekanntester Polithäftling Sergej Tichanowski wurde einen Monat
       > lang „gemästet“, bevor er jetzt freikam – als Teil eines politischen
       > Deals.
       
   IMG Bild: Endlich frei: Sergej Tichanowski, weißrussischer Oppositionsaktivist, in Vilnius, Litauen, am 22. 6. 2025
       
       Vilnius/Berlin taz | Am frühen Morgen des 21. Juni landet in Minsk ein
       amerikanisches Flugzeug mit dem US-Sonderbeauftragten Keith Kellogg an
       Bord. Für den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko ist Kellogg
       der höchste Staatsbesuch seit den offenkundig gefälschten Wahlen von 2020.
       
       „Wen sehe ich da?!“, begrüßt Lukaschenko mit strahlendem Gesicht den
       pensionierten Generalleutnant der US-Armee. „Mein Freund!“, antwortet
       Kellogg. Es folgen Umarmungen.
       
       „Mit Ihrer Ankunft haben Sie weltweit für Aufruhr gesorgt“, erklärt der
       belarussische Diktator vor den staatlichen TV-Kameras. „Wir leben in sehr
       gefährlichen Zeiten, in denen sich die aktuellen Krisen schnell verschärfen
       und ausweiten können, wenn wir nicht mit Weisheit und Gerechtigkeit
       vorgehen“, sagt Trumps Emissär.
       
       Auf belarussischem Staatsgebiet garantiere er ihm vollständige Sicherheit,
       lässt Lukaschenko den hochrangigen Gast wissen. Beim Treffen ist auch ein
       Dolmetscher und ein KGB-Mitarbeiter anwesend. Lukaschenko spricht kein
       Englisch. Und bald wird klar, wozu der KGB-Mitarbeiter dabei ist.
       
       ## Donald Trump dankt Präsident Trump
       
       Nur zehn Stunden später wird weltweit vermeldet: [1][Sergei Tichanowski,
       der wichtigste politische Gefangene in Belarus, ist frei.] Und nur wenige
       Minuten nachdem belarussische Exilmedien die Freilassung von insgesamt 14
       Personen vermeldet hatten, erscheint aus Litauens Hauptstadt Vilnius das
       erste Video, auf dem Sergej Tichanowski seine Frau Swetlana Tichanowskaja
       umarmt.
       
       „Sergej ist frei. Er ist bei mir und meinen Kindern. Es ist das
       eingetreten, wovon unsere Familie all die fünf Jahre geträumt hat und wofür
       wir seit seiner Verhaftung gekämpft haben“, schreibt Tichanowskaja später
       auf Telegram. „Die Freilassung von Sergei ist ein Schritt zur Befreiung
       aller politischen Gefangenen und ganz Belarus. Wir danken allen für die
       enorme Unterstützung.“
       
       Noch in der Nacht zum Sonntag veröffentlicht US-Präsident Donald Trump ein
       Foto von Tichanowski in den Armen seiner Frau und kommentiert selber:
       „Danke, Präsident Trump!“
       
       2020 hatte Sergei Tichanowski für das Präsidentenamt in Belarus kandidieren
       wollen. Ende Mai 2020 wurde er bei einer legalen Wahlkampfkundgebung in
       Grodno festgenommen. Zwei Monate später erklärte Lukaschenko, Tichanowski
       habe versucht, in Belarus einen Maidan-Aufstand nach ukrainischem Vorbild
       zu organisieren. Er durfte nicht antreten und [2][wurde im Dezember 2020 zu
       18 Jahren Strafkolonie verurteilt].
       
       An seiner Stelle trat seine Ehefrau Swetlana Tichanowskaja bei den Wahlen
       im August 2020 an. Das Lukaschenko-Regime weigerte sich, ihren mutmaßlichen
       Wahlsieg anzuerkennen. [3][Tichanowskaja musste nach Litauen ausreisen.]
       
       ## Fünf Jahre Haft, davon zwei in vollständiger Isolation
       
       Massenproteste in Belarus wurden brutal niedergeschlagen. Fünf Jahre hat
       Tichanowski seitdem hinter Gittern verbracht, die letzten zwei Jahre in
       vollständiger Isolation: in einer Einzelzelle, ohne das Recht auf
       Briefverkehr oder Telefonkontakte.
       
       Am Sonntag, den 22. Juni, tritt Sergej Tichanowski in einem Konferenzsaal
       in Vilnius ans Mikrofon. Er ist hager und ausgezehrt – und strahlt. Schnell
       ist er von Tränen überwältigt. Der stattliche, große Mann, so haben ihn
       viele Belarussen in Erinnerung, sieht nun aus wie ein Häftling aus dem
       Gulag.
       
       „Das Regime ist brutal“, sagt er unter Tränen. „Das ist keine
       Gerechtigkeit. Das ist ein System, das darauf ausgelegt ist, die Würde zu
       zerstören.“
       
       Seine Freilassung sei vorbereitet worden, erzählt Tichanowski. Vor etwa
       einem Monat habe man begonnen, ihn zwangsweise zu ernähren „Im letzten
       Monat haben sie mich richtig gemästet. Es gab Butter, Eier, Quark und immer
       doppelte Rationen. Können Sie sich vorstellen, wie ich bis dahin ausgesehen
       hatte?“
       
       ## Seine Kinder erkannten ihn nicht
       
       Der schwerste Moment nach seiner Freilassung sei das Wiedersehen mit seinen
       Kindern gewesen. „Sie standen vor mir – und erkannten mich nicht. Sie sahen
       mich nur an wie einen Fremden. Fünf Jahre sind für ein Kind eine Ewigkeit.“
       
       Tichanowski ist überzeugt, dass er Teil eines politischen Spektakels
       geworden ist. [4][Während politische Gefangene im Gefängnis sterben und
       andere körperlich und seelisch gebrochen werden], posiert Lukaschenko nun
       vor den Kameras und prahlt mit seiner „Menschlichkeit“.
       
       Der kommende Monat dürfte entscheidend sein, so Tichanowski. Es könnten
       alle politischen Gefangenen freigelassen werden. Im Gegenzug wolle der
       Diktator die Aufhebung der internationalen Sanktionen gegen Belarus
       erreichen.
       
       ## „Freilassung ausschließlich aus humanitären Gründen“
       
       Sergei Tichanowski sei ausschließlich aus humanitären Gründen freigelassen
       worden, um die Familie zusammenzuführen, sagt Lukaschenkos
       Pressesprecherin. Das sei auf Bitte des US-Präsidenten geschehen.
       
       Nach Angaben der litauischen Behörden sind unter den vierzehn
       Freigelassenen fünf Belarussen, ein Schwede, ein Este, zwei japanische,
       zwei lettische und drei polnische Staatsbürger. Einer von ihnen ist Igor
       Karnej, Journalist von Radio Liberty.
       
       Er berichtet, dass sie alle wenige Tage zuvor aus ihren Gefängnissen und
       Strafkolonien abgeholt wurden, ohne Begründung, mit Säcken über den Köpfen.
       Zunächst nahmen sie an, sie würden einfach verlegt oder zu Verhören
       gebracht. Einige wurden sogar direkt aus der Haft nach Litauen gebracht,
       ohne dass sie sich noch von Angehörigen hätten verabschieden oder
       persönliche Dinge mitnehmen können, berichtet er.
       
       Swetlana Tichanowskajas Chefberater Franak Viačorka sagt dem in Belarus
       verbotenen Online-Portal Zerkalo, man habe mit der Freilassung von zehn bis
       zwanzig Personen gerechnet. „Wer genau freigelassen wird, wird in Minsk
       entschieden und dort entscheiden sie in letzter Minute. Wir fordern immer
       wieder die Freilassung aller politischen Häftlinge. Aber die Entscheidung
       darüber liegt leider beim belarussischen Regime. Dieses Mal wurden vor
       allem diejenigen freigelassen, die Beziehungen zu anderen Ländern haben,
       entweder, weil sie Doppelstaatler sind oder mit ausländischen Medien
       gearbeitet haben. Wir erwarten immer mehr, aber bekommen immer weniger, das
       Regime ändert die Regeln im letzten Augenblick.“
       
       ## Trump braucht Lukaschenko für Ukraine-Friedensgespräche
       
       Aber wozu braucht Trump Lukaschenko? Juri Drakochrust, politischer Analyst
       von Radio Liberty, weist auf die Umstände hin: Trumps
       Ukraine-Friedensgespräche seien in eine Sackgasse geraten. Die USA könnten
       versuchen, Lukaschenko dafür zu nutzen, aus dieser Sackgasse
       herauszukommen.
       
       „Trumps politischer Stil ist es, nach ungewöhnlichen, manchmal riskanten
       Wegen aus Sackgassen zu suchen. Der Besuch von Keith Kellogg in Minsk
       könnte ein Schritt in diese Richtung sein“, schreibt er.
       
       Von einem „bedeutenden diplomatischen Erfolg für Minsk“ spricht der
       Politologe Artyom Schraibman. „Im Grunde genommen sprechen die Amerikaner
       nun wieder auf derselben Ebene mit Lukaschenko, auf der sie vor den
       Ereignissen von 2020 miteinander in Kontakt standen. Dafür konnte man schon
       einen der wichtigsten politischen Gefangenen freilassen. Zumal die
       belarussischen Exil-Politiker aktuell kaum etwas in Belarus selber bewirken
       können.“ Igor Tour vom staatlichen belarussischen TV-Sender ONT ist davon
       überzeugt, dass „Lukaschenko wieder alle übertroffen hat“.
       
       Für Tichanowski ist seine Freilassung nur der erste Schritt. In Vilnius
       wendet er sich an seine Landsleute: „Wenn ihr auf ein Zeichen gewartet
       habt, hier ist es“, sagt er und hebt seine geballte Faust in die Luft – das
       Symbol der Proteste von 2020.
       
       Dann sagt er noch: „Ich bin absolut davon überzeugt, dass die Befreiung von
       Belarus nicht beginnen kann, solange das Putin-Regime nicht zusammenbricht.
       Absolut. Ohne Putin wären wir jetzt nicht hier. Alles wäre 2020 oder 2021
       vorbei gewesen. Davon bin ich fest überzeugt.“
       
       Aus dem Russischen [5][Gaby Coldewey] 
       
       Alexandrina Glagoljewa ist Alumna mehrerer [6][internationaler Workshops
       der taz Panter Stiftung]. 
       
       Glafira Zhuk ist [7][Panter-Refugium-Stipendiatin 2025] , das
       Auszeit-Programm der taz Panter Stiftung und Reporter ohne Grenzen.
       
       23 Jun 2025
       
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