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       # taz.de -- Neuer Politikertypus: Vielleicht ein bisschen Schamgefühl? Nö
       
       > US-Präsident Trump ist zum Modell für eine ganze Generation extrem
       > Rechter geworden. Völlige Scham- und Schrankenlosigkeit zeichnet ihr
       > Handeln aus.
       
   IMG Bild: Skrupellos: US-Präsident Donald Trump
       
       Das Interessanteste an „Hybris“, dem Buch über Joe Bidens vertuschten
       körperlichen Verfall, war, dass es – [1][wie die taz geschrieben hat] –
       gewirkt hat: als Enthüllungsbuch, das eine verborgene Wahrheit ans Licht
       bringt. Während die Dutzenden Aufdeckungsbücher über Donald Trump hingegen
       völlig wirkungslos waren. Sie verpufften einfach. Denn all das, was sie
       enthüllen, wurde ja völlig offen vollzogen.
       
       Trump ist damit längst zu einem Modell für diese Generation von extremen
       Rechten geworden. Die Generation der Populisten davor hat ihr Tun in
       vielerlei Hinsicht noch verheimlicht. Man denke etwa an Jörg Haider, den
       österreichischen Urvater der neuen Rechten. Dieser operierte noch mit
       Verleugnung. Nunmehr aber folgen alle dem Trump-Modell. Von Israels
       Benjamin Netanjahu bis zum neuen polnischen Präsidenten: kein Verhüllen
       mehr.
       
       Egal wie moralisch fragwürdig ihr Tun ist, sie vollziehen es in aller
       Offenheit. Einen neuen, nie da gewesenen Politikertypus nennt das [2][die
       Soziologin Eva Illouz]. Ein Typus, der eine radikale Gleichgültigkeit
       sowohl gegen moralischen Anstand als auch gegen den äußeren Anschein
       aufweise.
       
       Unverhüllter Egoismus 
       
       Dieser Typus beleidigt und erniedrigt ebenso unumwunden (siehe den
       [3][Besuch von Selenskij im Oval Office]) wie er lügt (siehe die
       Genozidvorwürfe an den südafrikanischen Präsidenten ebenda). Er lebt seinen
       Egoismus völlig unverhüllt aus. Ebenso wie seine Korruption – ob er nun
       unverhohlen an seiner eigenen Kryptowährung verdient oder Flugzeuge und
       andere „Geschenke“ ungerührt entgegennimmt wie kürzlich in Katar (letzteres
       wird nur ob der Imposanz des Objekts nicht als Bestechung bezeichnet).
       
       Er betreibt seine Politik als lukratives Geschäft. Er nutzt sein Amt für
       eine ungebührliche Bereicherung. Sein Handeln ist von einer völligen Scham-
       und Schrankenlosigkeit.
       
       Es ist verführerisch, all das auf einen simplen Charakterdefekt zu
       reduzieren (einer, der derzeit zufälligerweise merkwürdig häufig
       aufzutreten scheint). Aber dieser Befund erklärt noch nicht das Verhalten
       ihrer Wähler. Denn es besteht kein Zweifel: Die Schamlosigkeit wirkt auf
       diese wie ein Faszinosum.
       
       Sie wählen diesen Typus nicht trotz seiner Verkommenheit, sondern wegen
       dieser. Während die Wähler der Demokraten sich von den
       Vertuschungsversuchen zu Bidens Gesundheit hintergangen und verraten
       fühlen.
       
       Scham und Schamlosigkeit 
       
       So kann man heute feststellen: Linke schämen sich. Grundsätzlich. Während
       die neuen Rechten genau dies nicht tun. Scham und Schamlosigkeit markieren
       somit eine politische Differenz. Ja mehr noch: Genau daran zeigt sich eine
       grundlegende gesellschaftliche Veränderung.
       
       Denn Scham ist eine Kulturform. Kultur ist das, was uns zivilisiert, und
       zugleich ist sie eine Quelle des Leidens, wie Freud gemeint hat. Von daher
       rührt das „Unbehagen“ an ihr.
       
       Denn Kultur verlangt uns Triebverzicht ab. Immer wieder. Sie ist darauf
       aufgebaut, dass die Befriedigung der Neigungen versagt wird – aufgeschoben
       oder nur in veränderter Form stattfindet. Dazu muss die gesellschaftliche,
       die moralische Autorität verinnerlicht werden. Sie findet sich, so Freud,
       in unserem Über-Ich wieder. Verstößt man gegen dessen Forderungen, dann
       folgt die Strafe durch Schuldgefühle, schlechtes Gewissen, Scham.
       
       Erosion des Über-Ichs 
       
       Wenn nun die Schamlosigkeit um sich greift. Oder wenn dieser unumwunden
       gehuldigt wird, so zeigt sich: Die gesellschaftliche Über-Ich-Herrschaft
       hat ihre Kraft eingebüßt. Sie ist erodiert. Denn auch Gesellschaften haben
       ein solches, ein Kultur-Über-Ich.
       
       Das unmittelbare Ausleben seiner Neigungen wird nun gesellschaftlich
       akzeptiert. Wobei diese Neigungen ebenso selbstsüchtig wie aggressiv und
       destruktiv sein können. Das macht sie ja so gefährlich. Und dennoch ist
       dies eine neue Form des gesellschaftlichen und politischen Lebens.
       
       Für die vielen ist das bestenfalls eine Sehnsucht – die Sehnsucht nach
       einem Ausbruch aus der alten Kultur. Die Sehnsucht nach einer Befreiung.
       Vorbehalten bleibt diese aber Einzelnen. Diese werden dafür, dazu gewählt.
       Sie sollen die Triebe ihrer Wähler ausleben, stellvertretend. In aller
       Schamlosigkeit.
       
       23 Jun 2025
       
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