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       # taz.de -- „Zur schönen Aussicht“ in Stuttgart: Phrasen schleudern, Intrigen spinnen
       
       > Das Schauspiel Stuttgart entdeckt Ödön von Horváth wieder – zu Recht.
       > Dessen Dramatik erweist sich als beklemmender Spiegel unserer Gegenwart.
       
   IMG Bild: Heckt eine Strategie aus, um an Christines Geld zu kommen: die Bande aus dem Hotel „Zur schönen Aussicht“
       
       Seine Stücke waren prophetisch. Noch vor Hitlers Machtergreifung deckten
       sie den latenten Faschismus im Kleinbürgertum auf, zeigten, wie blinder
       Militarismus im Krieg mündet. Eindringlich gibt davon etwa Ödön von
       Horváths reifstes Drama „Geschichten aus dem Wiener Wald“ (1931) Kunde.
       Während eine bräsige Walzerseligkeit herrscht, entwickelt sich die
       Vorstadt-Bevölkerung zu einer Gemeinschaft aus Hass und Ausgrenzung, der
       wie so oft in den galligen Karikaturen des 1938 gestorbenen Autors vor
       allem eine Gruppe zum Opfer fällt, nämlich die Frauen.
       
       Auch schon in seinem Werk mit dem ironischen Titel „Zur schönen Aussicht“
       von 1926 droht eine weibliche Figur den Männern auf den Leim zu gehen.
       Anders als die meisten Protagonistinnen im Œuvre des Schriftstellers
       gelingt ihr am Ende jedoch die Emanzipation.
       
       Was davor geschieht? Ein zwielichtiges Trio eröffnet ein schlecht laufendes
       Hotel und hält sich durch eine reiche Baronin, die einzige Gästin, über
       Wasser. Als wiederum Christine eines Tages hereinschneit und den Direktor
       der Kaschemme mit dem eigenen Kind konfrontiert, heckt dieser mit seinen
       Kumpels einen Plan aus, um den Unterhaltszahlungen zu entgehen – dumm nur,
       dass die Heldin erst danach von einer hohen Erbschaft berichtet. Und mit
       einem Mal sind aus den zuvor feindseligen Männern handzahme Liebeswerber
       geworden.
       
       Regie: Christina Tscharyiski 
       
       Im Schauspiel Stuttgart inszeniert Christina Tscharyiski diesen
       schwarzhumorigen und wendungsreichen Text, begleitet von unheimlichen
       Sounds und vor schwarzem Hintergrund, als Albtraumfantasie. Im Zentrum ragt
       eine gigantische Bühnenkonstruktion empor. Wir blicken auf zwei männliche
       Beine und einen Teil des Rumpfes, auf dem noch eine Kamera liegt. Wem
       gehören sie? Einem Touristen, der hier eine vermeintliche Idylle suchte und
       am Ende die Hölle vorfand?
       
       Zumindest die Seile, die die Füße fesseln, deuten an: Freiheit ist nichts
       als Illusion. Was in der dekadenten Welt zählt, die Horváth am Frühabend
       der Weltwirtschaftskrise zeichnet, ist einzig das Geld.
       
       Wohl auch deswegen lässt Regisseurin [1][Christina Tscharyiski] ihre
       Schauspieler:innen als an Geier oder Greifvögel angelehnte Gestalten
       auftreten. Sie tragen Krallenschuhe und hier und da Gefiederoberteile. Dass
       sie sich alle auf finanziellem Beutezug befinden, macht gewiss einen Teil
       ihrer Persönlichkeiten aus.
       
       Der andere offenbart sich in ihrem beinahe untoten Auftreten. Mit lichtem
       Haar und verlotterten Shirts wirken sie, als wären sie inmitten des
       Bühnennebels der Gruft entstiegen. Sie sind abgehalftert, deformiert,
       können sich kaum auf den Beinen halten, weswegen sie stets auf das Parkett
       rollen oder stolpern. Ungelenk stehen sie dann einander gegenüber, oft auf
       maximaler Distanz.
       
       Geballte Macho-Energie 
       
       Zusammen kommt der Männerclub nur, als seine Mitglieder den Plan gegen
       Christine (Laura Balzer) aushecken, sprich: ihre geballte Macho-Energie
       einsetzen. Dann fühlt man sich durchaus an von Horváths Drama „Kasimir und
       Karoline“ (1932) erinnert. Für die testosterongesteuerten Jahrmarktbesucher
       sind darin Frauen nur etwas wert, wenn sie über Geld oder über einen großen
       Ausschnitt verfügen.
       
       In „Zur schönen Aussicht“ scheinen sich die aasgierigen Betreiber des
       Hotels (unter anderen Felix Strobel und Simon Löcker), dessen Zimmer mit
       nummerierten Türen in den Bühnenkörper eingebaut sind, und ebenso in
       politischen Belangen einig. „Ordnung fehlt und Zucht und der starke Mann“,
       schwadroniert man und proklamiert vollmundig: „Wir brauchen einen neuen
       Krieg.“
       
       Aktueller könnte diese Bühnensoziologie kaum sein. Nicht allein wegen der
       Popularität rechter Ideologien oder aufgrund der Rückkehr bewaffneter
       Konflikte und Diktaturen, was übrigens schon mehr als genug wäre. Nein,
       brisant mutet das Stück zudem durch die Darstellung der Kommunikation,
       besser gesagt: scheiternden Kommunikation an. Oft reden die Figuren
       aneinander vorbei, oder sie schleudern ohne jeden Kontext Phrasen wie „Die
       Liebe ist eine Blume“ durch den Raum. Und wenn sie nicht gerade so tun, als
       seien sie gebildet mit antiquierten Wörtern wie „hernach“ oder „frappant“,
       gleiten sie gern ins allzu Derbe ab.
       
       Von Horváth schafft so einen regelrechten Clash der Sprachflächen. Zuhören
       hat man verlernt. Wer dabei wohl an unsere gespaltene
       Gegenwartsgesellschaft denkt? Und so könnte man noch viele weitere
       neuralgische Punkte nennen, die diese grandiose Aufführung dieses nicht
       minder grandiosen Dramas trifft. Es entstammt der Feder eines [2][leider
       etwas zu selten gespielten Dramatikers], dessen Werke zweifelsohne wieder
       häufiger auf deutschen Spielplänen stehen sollten.
       
       24 Jun 2025
       
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