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       # taz.de -- Leben in Plattenbausiedlungen: Mehr Miteinander
       
       > Plattenbausiedlungen haben einen schlechten Ruf. Dabei gibt es dort oft
       > Widerstand gegen die Einsamkeit und gegen das Übersehenwerden.
       
   IMG Bild: Zu unrecht schlecht gemacht? Hochhaus-Quartier um die Gründgensstraße im Hamburger Stadtteil Steilshoop im März 2017
       
       Leser*innen, die diese Kolumne schon öfters gelesen haben, wissen es schon:
       Ich habe meine Kindheit und Jugend in der Nähe von Damaskus verbracht, in
       einer kleinen, siedlungsähnlichen Nachbarschaft außerhalb der Stadt. Dort
       stand ein Haus, in dem nur meine Familie lebte. Hohe Decken, viele Zimmer,
       ein Nachbar, der jeden Morgen sehr laut den Koran hörte. Die meisten
       Nachbar*innen waren direkt oder indirekt mit meiner Familie verwandt.
       Als ich nach Hamburg kam, war mir klar: Alles wird anders. So war es auch
       dahingehend, wie und wo ich heute wohne.
       
       Das Thema Wohnen [1][beschäftigt viele in Hamburg]. Ich denke, ich werde
       die Liste der damit verbundenen Probleme nicht abschließend nennen können,
       sie ist lang und die meisten von uns kennen sie gut. Aus meinem
       persönlichen Umfeld aber habe ich vor Kurzem doch etwas neues gelernt:
       „Wohnen in der Platte“.
       
       Eine befreundete Familie sucht eine größere Wohnung, sie wünschen sich mehr
       Platz für ihre Kinder. Nach fast einem Jahr und Hunderten Bewerbungen,
       Besichtigungen und Absagen bekamen sie über Kontakte eine Information: In
       Steilshoop wird eine Wohnung frei! Genügend Quadratmeter, aber für knapp
       1.500 Euro Miete im Monat. Kaltmiete. Sie erzählte meiner Frau davon, die
       sagte erstaunt etwas wie „So viel für ’ne Plattenbauwohnung!?“
       
       Das war das erste Mal, dass ich das Wort „[2][Plattenbau]“ gehört habe. Ich
       wusste nicht, was es bedeutet, meine Frau konnte es zwar sachlich
       beschreiben, aber nicht genau, warum man dort automatisch geringere Mieten
       erwartet.
       
       Können eng gebaute Wohnungen aus Beton kein schönes Zuhause sein? Was hat
       es mit Steilshoop auf sich? Neben Plattenbau habe ich nun auch die Begriffe
       „Hochhaussiedlung“ und „Systembauweise“ gelernt.
       
       Die Woche darauf war ich beruflich in Dresden unterwegs und mir begegnete
       das Thema wieder. Ich suchte syrische Interviewpartner*innen und kam
       ins Gespräch, während ich mich in ihrer Plattenbausiedlung umsehen durfte.
       
       Von einem Balkon hing eine Palästinaflagge, beim Nachbarn wurde Lammfleisch
       gegrillt. Auf dem Hof spielten Kinder Verstecken – auf Arabisch. Es war
       nicht idyllisch, aber es fühlte sich sozial und harmonisch an. Und das
       zählt auch, oder? Na ja, die Gebäude waren hässlich und schmutzig. Und
       niemand wollte wirklich was ändern. „Seit 30 Jahren ist hier nichts
       renoviert worden“, erzählte mir ein alter Mann.
       
       Zurück in Hamburg habe ich ein bisschen nachgelesen: Plattenbauten sollten
       in den 60er-Jahren die Wohnungsnot in der DDR lösen. Günstig und schnell
       gebaut mit vorgefertigten Betonplatten. „Die Platte“ galt als Zeichen der
       Fortschrittlichkeit, spätestens nach der Wiedervereinigung war das wieder
       vorbei. Im Osten wurde die Bauweise zum Zeichen für Stillstand. In
       Westdeutschland als Ort für die „sozial Abgehängten“.
       
       Und heute? Nach meiner kurzen Recherche und ein paar Gesprächen höre ich
       beim Begriff „Plattenbau“ oft im Subtext mit: arm, migrantisch, asozial.
       Ähnlich wie bei „Problemviertel“ oder „[3][sozialer Brennpunkt]“. Ich kenne
       Steilshoop nicht, auch nicht die anderen Plattenbausiedlungen der Stadt.
       Aber ich höre die Sprache und denke mir, wir vermischen, wie wir über die
       Architektur sprechen und wie über die Menschen. Und die Architektur ist
       schließlich nicht vom Himmel gefallen, sie wurde so geplant und gemacht.
       
       Ich habe auch aus den Gesprächen gelernt: In vielen Plattenbauwohnungen
       leben Menschen seit mehreren Generationen, viele deutsche wie nicht
       deutsche Bürger*innen, viele Familien, viele Arbeiter*innen. Man kennt
       sich, unterstützt sich, passt mal auf die Nachbarskinder auf, feiert
       zusammen Eid al-Adha. Ist das romantisiert? Vielleicht. Gibt es kollektive
       Strukturen, Widerstand gegen die [4][Einsamkeit] und gegen das
       Übersehenwerden? Vielleicht mehr in Plattenbausiedlungen als anderswo.
       
       30 Jun 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Hussam Al Zaher
       
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