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       # taz.de -- Fragwürdiger Partner Israels: „In der Gefährlichkeit könnte er die Hamas übertreffen“
       
       > Netanjahus Regierung gibt Waffen an eine fragwürdige Miliz in Gaza. Das
       > könnte Israelis wie Palästinensern schaden, mahnt Nahostexperte Jan
       > Busse.
       
   IMG Bild: Bewaffnet eine zweifelhafte Miliz in Gaza um Yasser Abu Shabab: der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu
       
       Jerusalem/München taz | Israel bewaffnet offenbar Milizen im Gazastreifen,
       die sich der Hamas entgegenstellen. Das hat Premierminister Benjamin
       Netanjahu kürzlich indirekt zugegeben. Ein Name taucht in den Berichten
       immer wieder auf: Yasser Abu Shabab, ein Mann Mitte 30, beduinischer
       Herkunft, der vor nicht allzu langer Zeit noch wegen Drogenhandel im
       Gefängnis saß. Auf Bildern, die ihn auf Facebook zeigen, steht er nun mit
       Helm und Maschinengewehr auf einer Straße, vor UN-Wagen. Einige Kämpfer in
       seiner Gruppe – der Abu-Shabab-Bande – sollen Verbindungen zum IS gehabt
       haben. Er selbst bestreitet alles und sagt, er wolle nur dem Volk Gazas
       helfen. Die taz hat mit dem Politikwissenschaftler und Nahostexperten Jan
       Busse darüber gesprochen.
       
       taz: Herr Busse, im Kampf gegen die Hamas bewaffnet die israelische
       Regierung offenbar eine [1][zweifelhafte Miliz in Gaza um die kontroverse
       Figur von Yasser Abu Shabab]. Wieso?
       
       Jan Busse: Weil der Herrschaftsanspruch der Hamas in Gaza dadurch zumindest
       infrage gestellt wird. Und letzten Endes ist es der Versuch, einen Proxy zu
       schaffen – also einen Akteur, über den Israel eine gewisse Kontrolle
       ausüben kann. Ich glaube, dass Israel durch die Unterstützung dieser Gruppe
       den Versuch unternimmt, die Hamas zu schwächen. Aber eine militärische
       Schwächung dadurch ist unrealistisch.
       
       taz: Warum? 
       
       Busse: Weil diese Bande der Hamas zahlenmäßig drastisch unterlegen ist.
       Laut Schätzungen soll sie um die 300 Mann stark sein. Bei der Hamas kann
       man davon ausgehen, dass es noch einige Tausend Kämpfer sind. Eine richtige
       Bedrohung könnten diese Akteure für die Hamas also nicht direkt darstellen.
       
       taz: Eine Art Divide-et-Impera-Strategie also. Heißt: teile und herrsche –
       der Versuch, die zu beherrschende Gruppe in Untergruppen aufzuspalten. Was
       könnten die Folgen sein? 
       
       Busse: Es besteht die Gefahr, dass sie sich am Ende in einer
       Nachkriegsordnung in Gaza etablieren. Das würde zu einer Fragmentierung der
       Kontrolle im Gazastreifen führen. Wenn so ein problematischer Akteur
       unterstützt wird, ist das Risiko da, dass sich die Gruppe irgendwann auch
       gegen Israel richtet und sicherlich keine Politik verfolgt, die auf
       Ausgleich und friedliche Verständigung ausgerichtet ist. Dies ist kein
       Akteur, der Israel direkt vor der Haustür haben möchte. In der
       Gefährlichkeit und ideologischen Ausrichtung könnte er die Hamas potenziell
       sogar übertreffen. Außerdem gibt es bei derartigen Gruppen keinerlei
       Legitimation durch die palästinensische Bevölkerung.
       
       taz: Manche Beobachter sehen darin eine [2][ähnliche Strategie wie die von
       Israel vor Jahrzehnten mit der Hamas], als Israel deren Gründer
       unterstützte oder zumindest tolerierte, um die Palästinensische
       Befreiungsorganisation (PLO) im Zaum zu halten. 
       
       Busse: Es gibt viele Analysten, die eine Parallele zur Zeit der Entstehung
       der Hamas zeichnen. Und zwar, dass auch nach der Entstehung des militanten
       Islamismus im Gazastreifen etwa Mitte/Ende der 1980er Jahre, dies
       vorübergehend zumindest von israelischer Seite geduldet wurde, weil man den
       Eindruck hatte, dass dies zur Schwächung der PLO beiträgt.
       
       taz: Und welche Auswirkungen könnte das auf die Palästinenser*innen
       haben? 
       
       Busse: Die Unterstützung solcher Gruppen ist auch dahingehend für die
       palästinensische Bevölkerung eine Gefahr, weil sie eben nicht
       vertrauenswürdig sind und keinesfalls in eine Position gebracht werden
       sollten, wo sie über die Verteilung von humanitärer Hilfe und die Gewährung
       von Sicherheit und Schutz entscheiden können.
       
       taz: Aber das tun sie offenbar. Abu Shabab wirbt gerade damit, humanitäre
       Hilfe in den Gazastreifen zu erleichtern. 
       
       Busse: In den vergangenen Monaten haben wir von israelischer Seite immer
       wieder den Vorwurf gehört, wir könnten die humanitäre Hilfe nicht über die
       etablierten Kanäle, Vereinte Nationen und damit verbundene
       Hilfsorganisationen, in den Gazastreifen leiten, [3][denn sie würden von
       der Hamas geplündert]. Es gab jedoch keinerlei Belege laut Vereinten
       Nationen, dass das jemals systematisch passiert sei, Belege gab es
       allerdings dafür, dass genau diese Gruppe, die Israel jetzt unterstützt, an
       Plünderungen beteiligt war. Und dass israelische Truppen, die in der Nähe
       waren, nicht dagegen vorgegangen sind.
       
       taz: Das klingt nach einer explosiven Mischung. Hat sich Israels Strategie
       im Gazastreifen in den letzten Monaten insgesamt verändert? 
       
       Busse: Seit der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen im März hat Israel
       [4][einen Strategiewechsel unternommen], und zwar gezielt auch zivile
       Vertreter der Hamas getötet. Nicht nur Anhänger der Qassam-Brigaden,
       sondern auch Vertreter des Innenministeriums oder der Polizei – also
       diejenigen Akteure, die für das Regieren im Gazastreifen verantwortlich
       sind. Und die Idee dahinter ist, dass die Hamas nicht mehr in der Lage sein
       soll, dort zu regieren. Vor diesem Hintergrund sehe ich auch die
       Unterstützung dieser bewaffneten Bande.
       
       taz: Teilweise hat man jedoch den Eindruck, dass es auf israelischer Seite
       gar keine Strategie mehr gibt in diesem Krieg. 
       
       Busse: Eine Strategie gibt es nur in sehr begrenzter Form. Ein Element ist,
       dass die Kriegsführung seit Ende März massiv verschärft worden ist. Weil
       man das Gebiet langfristig halten und kontrollieren möchte. Aber die
       letzten anderthalb Jahre haben gezeigt, dass es nicht so leicht ist, die
       Hamas zu bekämpfen. Es scheint, wenn, dann nur dann möglich, wenn man
       bewusst völkerrechtswidrig den Tod von Zivilisten in Kauf nimmt.
       
       taz: Warum ist es so schwierig, die Hamas zu schlagen? 
       
       Busse: Man hat gesehen, dass die Hamas in der Lage war, getötete Kämpfer
       durch neue zu ersetzen. Was letzten Endes nur möglich war, weil es
       keinerlei politische Perspektive gibt, die der Hamas den Zulauf entziehen
       könnte. Keine Aussicht auf Waffenstillstand, keine Aussicht auf Frieden.
       Und aktuell das Vorenthalten humanitärer Hilfe, um Druck auf die
       palästinensische Bevölkerung auszuüben – was völkerrechtlich als
       rechtswidrige Kollektivstrafe gelten kann. Das alles spielt der Hamas in
       die Hände.
       
       taz: Jetzt scheint es aber eine neue Perspektive zu geben: Trumps Vorstoß
       über eine Vertreibung der Bewohner*innen Gazas. 
       
       Busse: [5][Der israelische Premierminister betont immer wieder, dass er
       Trumps Vorschlag für eine gute Idee hält.] Da muss man aber betonen, dass
       es ein massiver Bruch des Völkerrechts wäre. Es kann auch sein, dass der
       Versuch unternommen wird, mithilfe dieser Bande um Abu Shabab einen Beitrag
       zu leisten zur Umsiedlung der palästinensischen Zivilbevölkerung in den
       südlichsten Teil des Gazastreifens. Diese Gruppe hatte neulich über
       Facebook die Bevölkerung dazu aufgerufen: „Kommt dorthin, dort seid ihr
       sicher.“ Klar ist, dass die israelische Regierung vermeiden will, dass die
       Palästinensische Autonomiebehörde im Gazastreifen die Kontrolle übernimmt.
       
       taz: Wieso will die israelische Regierung nicht, dass die Palästinensische
       Autonomiebehörde die Kontrolle in Gaza nach einem Ende des Krieges
       übernimmt? 
       
       Busse: Der Grund liegt darin, dass die aktuelle israelische Regierung einen
       unabhängigen palästinensischen Staat ablehnt und Maßnahmen, die die Rolle
       der Palästinensischen Autonomiebehörde stärken könnten, unbedingt
       unterbinden will.
       
       taz: Welche Folgen könnte dann eine Fortsetzung des Kriegs ohne Ende in
       Sicht haben? 
       
       Busse: Einerseits eine weiter steigende Zahl von zivilen Getöteten,
       andererseits, wenn die Hilfe weiter vorenthalten wird, werden wir früher
       oder später akute Hungersnot mit zahlreichen Hungertoten erleben. Und das
       ist dann etwas, dass Israel völkerstrafrechtlich zugerechnet wird. Es
       könnte dazu führen, dass Israel insbesondere im Globalen Süden, aber auch
       darüber hinaus, weiter an Ansehen verliert. Politisch mangelt es seit
       Kriegsbeginn an einer klaren Zielsetzung. Netanjahus rechtsextreme
       Koalitionspartner hoffen auf die Wiederbesiedlung des Gazastreifens. Zudem
       stehen [6][die Zerstörung der Hamas und die Befreiung der Geiseln im
       Widerspruch zueinander]. Der Großteil der Geiseln kam durch Verhandlungen
       frei, aber Netanjahu hat zugestanden, dass deren Befreiung für ihn keine
       Priorität hat. Die Bedrohung Israels durch die militärischen Fähigkeiten
       der Hamas ist kaum noch vorhanden, aber da es seitens Netanjahu keinen Plan
       für die Nachkriegszeit gibt, wird der Krieg fortgesetzt.
       
       15 Jun 2025
       
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       Bundesaußenminister Johann Wadephul kritisiert Israel wegen dessen Vorgehen
       im Gazastreifen.