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       # taz.de -- 100. Todestag des Komponisten Eric Satie: Wie man Töne in Trance versetzt
       
       > Vor 100 Jahren, am 1. Juli 1925, starb der französische Komponist Erik
       > Satie. Seiner Zeit war er voraus. Seine meditative Tonkunst ist wieder
       > aktuell.
       
   IMG Bild: Der französische Komponist und Pianist Erik Satie in Paris, um 1914
       
       Das Meer ist aufgewühlt – hoffentlich zerbricht es nicht an einem Felsen –
       kein Mensch könnte es wieder zusammensetzen. (Erik Satie, „Sports &
       Divertissement“)
       
       Komponieren heißt zusammenfügen. Was passt zueinander, was nicht, und was
       sind die Kriterien dafür? Im Alter von 40 Jahren fragte Erik Satie sich das
       aufs Neue, als er in der Mitte seiner Komponistenlaufbahn stand und deshalb
       an der Schola Cantorum in Paris erneut Kontrapunkt studierte: die Lehre,
       wie man Töne ordnet und zusammensetzt.
       
       Seine Kollegen lächelten darüber, dass sich ausgerechnet Satie, dieses
       Enfant terrible der Musikszene, bei der konservativen Institution des
       Komponisten und Musiktheoretikers Vincent d’Indy ein Zertifikat als
       seriöser Komponist holen wollte. Glücklicherweise komponierte Satie danach
       keineswegs im Stile der Schola Cantorum. Im Gegenteil. Mit der Frage, wie
       man Klänge zusammenfügt, beschäftigte er sich in einer Weise, die seiner
       Zeit voraus war.
       
       ## Grenzen zwischen Ton und Geräusch
       
       Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die Musik eine Erweiterung der
       Harmonik und eine Phase des Aufbruchs. Claude Debussy, Arnold Schönberg und
       Igor Strawinsky komponierten zentrale Werke, in denen alles möglich wurde:
       Dissonanzen mussten nicht mehr aufgelöst werden, die tonale Verankerung auf
       einen Grundton war nicht mehr Pflicht, und gelegentlich wurden die Akkorde
       so komplex, dass sie von den Zuhörenden nur noch als Sound wahrgenommen
       wurden.
       
       Damit wurde auch die Grenze zwischen Ton und Geräusch fließend. Es war eine
       Erneuerung in Richtung einer utopischen Zukunft der Musik.
       
       Erik Saties musikalische Innovationen gehen jedoch in mehrere
       gegensätzliche Richtungen. Er fügt Melodien und Harmonien so zusammen, wie
       es vor ihm noch niemand gewagt hat. Aber er fügt nicht nur Töne hinzu, er
       lässt diese auch weg. Plötzlich bleibt in einem Klavierstück nur noch eine
       scheinbar unbedeutende Nebenstimme übrig, ein repetierter Einzelton oder
       eine Begleitfigur, der man ansonsten keinerlei Aufmerksamkeit schenken
       würde und die Satie nun ganz nackt für die Hörenden ausstellt.
       
       Das hat eine meditative Wirkung, allerdings nicht im weihevollen Sinne,
       sondern in einer irritierenden Erfahrung: der Begegnung mit etwas
       Vertrautem, das aus seinem gewohnten Kontext heraus gelöst wird und nun
       einfach da ist.
       
       ## Befremden der Zeitgenossen
       
       Seine Zeitgenossen nahmen das mit Befremden wahr. Es brachte ihm den Ruf
       eines Humoristen ein, ein Image, dass er gelegentlich bestätigte,
       gelegentlich bestritt. Eine tiefere Auseinandersetzung [1][mit Erik Saties
       Musik begann erst Generationen später], als offenbar wurde, dass auch in
       der Kunst die Idee eines linearen Fortschritts nicht frei von Widersprüchen
       ist.
       
       Der Gegensatz zwischen dem Einfachen und dem Komplexen wird in Erik Saties
       Kompositionen immer wieder obsolet. Das gilt nicht nur für den
       Zusammenklang der Stimmen, sondern auch beim Zusammenfügen von Formteilen.
       Die „Danses gothiques“ aus dem Jahr 1893 sind äußerst schlicht komponiert,
       manche würden sogar sagen, der Komponist habe es sich etwas zu einfach
       gemacht.
       
       Ein gutes Dutzend Versatzstücke, selbst wiederum Folgen mystisch
       aufgeladener Akkorde, werden immer wieder neu zusammengesetzt. Es entsteht
       eine Serie von neun Klavierstücken. Was sich mit einem Blick in die Noten
       sofort analysieren lässt, ist kaum zu hören, denn beim Hören versinkt man
       in diesem Dickicht von Wiederholungen und Ähnlichkeiten in einen Zustand
       der Entrückung, Das bemerkt man auch als Spieler, sobald man versucht,
       diese Musik auswendig zu lernen.
       
       ## Zuhörende in Trance
       
       Die scheinbar simple Struktur verwandelt sich in ein Labyrinth,
       Wiederholungen werden zu Fallstricken fürs Gedächtnis, die Trance, in die
       die Zuhörenden geraten, droht sich auf den Spieler zu übertragen. Erik
       Satie erweitert die Kriterien für Musik nicht nur, er hinterfragt sie von
       Grund auf. Was erschafft einen Zusammenhang, was treibt ihn auseinander? In
       den collagenhaften Klavierstücken seiner späteren Zeit gibt es keinerlei
       didaktisches Fortschreiten. Im Gegenteil, die Logik des Wechsels der
       verschiedenen Klangblöcke ist für die Zuhörenden oft ein Rätsel. Ab und zu
       findet man die Lösung, manchmal findet man sie nicht.
       
       Zu traditionellen Kompositionsmodellen hielt Satie Distanz. Die
       Leitmotivtechnik [2][Richard Wagners] – die Kennzeichnung von Personen
       durch eine erkennbare Melodie – führt Satie auf elegante Weise ad absurdum.
       In der Klavierminiatur „Les quatre coins“ aus dem Zyklus Sports &
       Divertissement werden die handelnden Akteure, vier Mäuse und eine Katze,
       statt mit einem markanten Motiv lediglich mit jeweils einer einzigen Note
       charakterisiert. Das erzeugt keinen Wiedererkennungseffekt, wie man es von
       einem Leitmotiv erwartet, aber die Konstellation der fünf Einzeltöne wird
       zum Ausgangspunkt für eine turbulente Aktion.
       
       Saties Absichten waren labyrinthisch und undurchschaubar, ihre Realisation
       dagegen ist luzide und durchhörbar. Seine kalligrafische Notation ist
       genau, der Klaviersatz schön und leuchtend. Trotz allen rätselhaften
       Entwicklungen in seinen Kompositionen behält Satie immer den Sinn fürs
       perfekte Timing.
       
       ## Widersprüche prägten sein Leben
       
       Wenn Erik Satie gelegentlich aus der absoluten Musik ausbricht und in seine
       Noten kleine Geschichten einfügt, tut er das nicht im Hinblick auf ein
       traditionelles Gesamtkunstwerk. Die Ebenen driften auseinander. Oft ist es
       unmöglich, einen plausiblen Bezug zwischen Text und Musik herzustellen,
       ganz abgesehen davon, dass eine simultane Aufführung der Worte und der
       Musik vom Komponisten ausdrücklich verboten wurde. Sie ist auch aus
       praktischen Gründen wenig sinnvoll. Denn viele dieser Klavierminiaturen
       sind derart kurz und gedrängt, dass eine gleichzeitige Darbietung von Text
       und Musik das Publikum überfordern würde.
       
       Erik Satie hat den Zusammenhang gesucht und ihm gleichzeitig misstraut –
       dieser Widerspruch prägte auch sein persönliches Leben. In den 1890er
       Jahren, auf dem Höhepunkt einer Esoterikwelle in Frankreich, bewegte Satie
       sich in den obskuren Sekten von Nachfahren der Rosenkreuzer. Dem
       sektiererischen Zugriff entzog er sich auf geniale Weise, nämlich indem er
       1892 seine eigene Sekte gründete, die „L’Église Métropolitaine d’Arts de
       Jésus Conducteur“, mit sich selbst als einzigem Mitglied.
       
       Von [3][den Dadaisten] ließ er sich später als eine Art Vorläufer ihrer
       Bewegung feiern, doch anschließen mochte er sich ihnen nicht. Auch die
       Kommunistische Partei, in der er 1920 Mitglied wurde, blieb ihm fremd.
       „Meine lieben Kommunistenfreunde sind in Dingen der Kunst ungeheure
       Bourgeois“, so Satie.
       
       Satie hatte ein instinktives politisches Urteilsvermögen. Die
       Kriegsbegeisterung, die 1914 seine Komponistenkollegen in ganz Europa
       erfasste, war ihm fremd. Ein paar Monate vor Kriegsausbruch schrieb er
       [4][das Klavierstück „Italienische Komödie“], das er mit einer
       kommentierenden Geschichte versah: Der vulgäre Scaramouche erklärt den
       Anwesenden die „Schönheiten des militärischen Standes“. „Man ist dort sehr
       geschickt, man macht den Zivilisten Angst.“ Im chauvinistisch aufgeladenen
       Frankreich waren solche Kommentare nicht erwünscht.
       
       ## Rolle als Außenseiter
       
       Es ist gut möglich dass aus diesem Grund Saties jahrzehntelange
       Freundschaft zum nationalistisch denkenden Claude Debussy in die Brüche
       ging. Die Uraufführung des experimentellen Balletts „Parade“ im Jahre 1917,
       eine Zusammenarbeit von Jean Cocteau, Pablo Picasso und Satie, geriet zum
       Skandal, die Autoren wurden als „Boches“, dumme Deutsche, beschimpft.
       
       So interessant die Außenseiterrolle in einer posthumen Künstlervita sein
       mag – im wirklichen Leben ist sie keineswegs angenehm. Wie so viele
       Komponisten vor und nach ihm ist Erik Satie an den Folgen seines
       Alkoholkonsums gestorben, am 1. Juli 1925 im Alter von 59 Jahren.
       
       Tomas Bächli, Schriftsteller, lebt in Berlin. Autor des Buches „Ich heiße
       Erik Satie wie alle anderen auch“
       
       30 Jun 2025
       
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