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       # taz.de -- Beschluss von 1975: Der humanitäre Geist der Helsinki-Akte
       
       > Was in der sogenannten „Helsinki-Schlussakte“ bei der OSZE 1975
       > beschlossen wurde, war für sowjetische Dissidenten sehr wichtig. Eine
       > Erinnerung.
       
   IMG Bild: Helsinki 1975 – die russische Delegation mit Leonid Breschnjew und Andrey Gromyko braucht noch Beratung
       
       Der 21. August 1968, der Tag, an dem ich vom Einmarsch der Truppen des
       Warschauer Pakts in Prag hörte, wurde zu einem schweren Tag. Es war der
       Abschied von der Hoffnung auf Freiheit, zumindest in der Tschechoslowakei.
       Es begannen die „bleiernen Zeiten“ unter Breschnews Anleitung aus Moskau.
       Die Zensur wurde im „Ostblock“ verschärft, über das Thema GULag zu
       sprechen, erneut verboten. Der KGB, der sowjetische Geheimdienst, erhöhte
       den Druck, Dissidenten wurden brutal verfolgt.
       
       Vor diesem Hintergrund erschien die Unterzeichnung der Schlussakte der
       Helsinki-Vereinbarungen im August 1975 völlig unglaublich. [1][Die
       Beratungen im finnischen Helsinki hatten mehrere Monate gedauert.] Die
       sowjetische Seite war sehr daran interessiert, die Vereinbarungen zu
       unterzeichnen. Inoffiziell wurde sie als die „drei Körbe“ bezeichnet.
       
       Der erste Korb bestätigte die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa, wie
       sie nach 1945 festgelegt worden waren. Der zweite betraf die Ausweitung der
       Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. Aber es gab auch einen dritten Korb –
       den humanitären –, in dem von Menschenrechten, Meinungsfreiheit,
       Bewegungsfreiheit die Rede war.
       
       ## Worte auf Papier
       
       Natürlich rief der dritte Korb Befürchtungen bei den Politbüromitgliedern
       hervor. Aber schließlich wurde doch beschlossen, zu unterschreiben. Man
       ging davon aus, dass es nur Worte sind, die auf dem Papier bleiben würden.
       Doch eine der Bedingungen für die Unterzeichnung war ausdrücklich die
       Veröffentlichung des Vertragstextes.
       
       Ich erinnere mich gut an den Eindruck, den die in der Moskauer Tageszeitung
       Prawda, dem Zentralorgan der KPdSU, veröffentlichten Vereinbarungen aus dem
       „dritten Korb“ machten. Denn dort stand tatsächlich: „Die Teilnehmerstaaten
       werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der
       Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne
       Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion
       achten.
       
       Sie werden die wirksame Ausübung der zivilen, politischen,
       wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie der anderen Rechte und
       Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben
       … fördern und ermutigen“.
       
       ## Hier irrte der KBG
       
       Natürlich war die KGB-Führung der Meinung, [2][dass es im Land nur sehr
       wenige Dissidenten gebe.] Und, dass sie ohnehin nichts ausrichten könnten.
       Doch sie hatten sich verrechnet. Denn nun forderten die Dissidenten
       lautstark und vor der ganzen Welt nicht abstrakt „Freiheit“, sondern die
       Einhaltung der Verpflichtungen, die man in Helsinki übernommen hat.
       
       1976 gründeten Dissidenten die Moskauer „Helsinki“-Gruppe. Sie begann,
       Informationen über Proteste und politische Verfolgung in der Sowjetunion zu
       sammeln und zu verbreiten Sie half politischen Gefangenen und half
       Informationen im Westen zu verbreiten. Helsinki-Gruppen entstanden auch in
       der Ukraine, in Litauen, in Georgien und in anderen Ländern Osteuropas.
       
       Die Reaktion des KGB ließ nicht lange auf sich warten. Es begann eine Phase
       harter Repression. Dennoch gelang es nicht, die Helsinki-Bewegung
       vollständig zu zerschlagen. An die Stelle von Verhafteten traten immer neue
       Menschen – und die Arbeit ging weiter.
       
       ## Bis zum Fall der Berliner Mauer
       
       Neue Hoffnung auf Freiheit nährte der Machtantritt Gorbatschows. Sein
       proklamiertes „neues Denken“ führte schließlich zum Ende des Kalten
       Krieges, zum Fall der Berliner Mauer und zur Befreiung Osteuropas von den
       kommunistischen Diktaturen. Im Jahr 1989 wurde die Moskauer Helsinki-Gruppe
       von aus der Verbannung und dem Exil zurückgekehrten Dissidenten neu
       gegründet. Die Worte der Helsinki-Akte schienen nun Wirklichkeit zu werden.
       
       Doch heute, 50 Jahre nach ihrer Unterzeichnung, ist es bitter zu erkennen,
       wie weit sich das gegenwärtige Russland von den Prinzipien entfernt hat.
       Der humanitäre Geist der Helsinki-Akte ist vollständig aus dem Land
       verbannt.
       
       1 Jul 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Irina Scherbakowa
       
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