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       # taz.de -- Frauenrechte in Syrien: Freiheitskampf der Frauen
       
       > Seit dem Machtwechsel in Syrien sorgen sich viele um die Frauenrechte
       > unter der islamistischen HTS-Regierung. Drei Beispiele feministischer
       > Wehrhaftigkeit.
       
   IMG Bild: Ackern für die eigene Freiheit: Im kurdischen Dorf Jinwar leben und arbeiten Frauen unter sich
       
       Wenn es in den letzten 15 Jahren um Syrer*innen ging, drehte sich in
       westlichen Medien nahezu alles um Männer. Um Terroristen, Kämpfer,
       politische Anführer, um Geflüchtete und ihre gelungene oder nicht gelungene
       Integration. Doch plötzlich hat sich das Blatt gewendet.
       
       Seit die Islamisten von [1][Hayat Tahrir asch-Scham (HTS)] am 8. Dezember
       2024 die Macht in Syrien übernahmen, stehen Frauen auf einmal im Fokus des
       Weltinteresses. Werden sie jetzt unterdrückt? Verlieren sie all ihre
       Freiheiten, wie es Frauen in Afghanistan geschehen ist? Und wie frei waren
       sie überhaupt in der [2][totalitären Diktatur von Bashar al-Assad]? Mehrere
       Frauen haben mit der taz über ihre Sorgen, Hoffnungen und Hindernisse
       gesprochen.
       
       ## Die Kämpferin
       
       Nesrin Abdullah ist von kleiner Statur, ihre schwarzrötlichen, mit einer
       rosaroten Spange gebundenen langen Haare fallen auf ihr Tarnfleck. An den
       Füßen trägt sie schwarze Sportschuhe, so wie viele kurdische YPG- und
       YPJ-Soldat*innen. Waffen hat sie keine dabei, die schweigen eh seit Wochen
       in Nordostsyrien. Eine fragile, inoffizielle Waffenruhe zwischen der Türkei
       und den kurdischen Streitkräften schwebt über der gesamten Region, erlaubt
       ein vorsichtiges Aufatmen in der angespannten Atmosphäre.
       
       Abdullah sitzt heute also in einem Büro der Zentrale der kurdischen
       Frauenschutzeinheiten, der YPJ, und nicht auf irgendeinem Schlachtfeld.
       Neben ihrem Sofa thront eine überdimensionale grüne Flagge mit rotem Stern.
       Abdullah ist eine Rarität im heutigen Syrien, eine Soldatin, Kommandantin
       noch dazu, Sprecherin der YPJ und eine, die eine gesamte Militäreinheit
       gegen alle Widrigkeiten einer frauenfeindlichen Gesellschaft mitgegründet
       hat. Aber wenn es nach ihr ginge, wären im heutigen Syrien weibliche
       Soldaten Normalität. Doch nur so lange, wie es nötig ist. „Die Uniform, die
       ich gerade trage – ich trage sie nicht, weil ich sie liebe, sondern weil es
       notwendig ist.“
       
       Es ist kein rein militärischer Kampf, den Abdullah gerade austrägt, sondern
       ein ideologischer. Ein Kampf gegen das Patriarchat, gegen religiösen
       Absolutismus, gegen rechte Ideologien, gegen altmodische, ungeschriebene
       Gesetze und gegen alle, die sie als Bedrohung für die Freiheit kurdischer
       Frauen erkennt. Es ist eine enorm kräftezehrende Schlacht und eine, die
       sich mit militärischen Mitteln nicht so leicht gewinnen lässt.
       
       Hätte es den Krieg in Syrien nicht gegeben, hätte es die Revolution 2011
       nicht gegeben, dann wäre Abdullah Journalistin geworden. Sie war bereits an
       der Uni eingeschrieben, als der Arabische Frühling durch ihr Land fegte und
       der Bürgerkrieg begann. Abdullah kommt aus einer politisch engagierten
       Familie, einer liberalen Familie, die zweitälteste Tochter von zehn
       Kindern. Aufgewachsen in einem Dorf in der Nähe der Kleinstadt Derek an der
       kurdischen Grenze, mit einer gebildeten Mutter, der älteste Bruder im
       Syrischen Bürgerkrieg gestorben. Sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen
       war eine Selbstverständlichkeit, sagt sie resolut.
       
       ## Angst des IS vor den Frauen
       
       Als Kurdin sei man das Kämpfen gewohnt gewesen. Nicht nur gegen die Regeln
       einer maskulin geprägten Kultur, in der Frauen traditionell nur als
       Hausfrauen und Mütter dienten und weniger Rechte bei Erbe und Ehe bekamen,
       wo „Ehrenmorde“ zum tribalen Ehrenkodex gehören und teils heute noch Kinder
       verheiratet werden. Der Kult kurdischer Kämpferinnen, die sich an
       Guerrilla-Aktionen beteiligten, war schon da, bevor der echte Kampf begann.
       
       Die Lehre von PKK-Anführer Abdullah Öcalan war in Nordostsyrien, heute
       allgemein bekannt als Rojava, bereits verbreitet. Sie kombinierte eine
       linke Ideologie mit Gleichberechtigung, Umweltschutz und Pluralismus.
       Öcalan selbst hat 20 Jahre hier gelebt.
       
       „Die Kurden waren unterdrückt und die Kriegsgeschichten nie weit weg. Und
       unter dem Baath-Regime zur Schule gegangen zu sein, das war schon wie beim
       Militär. Wir hatten ab der sechsten Klasse Training“, erzählt die
       46-Jährige mit festem Blick. „Als die Revolution begann, kamen viele
       weibliche Guerrilla-Kämpfer, die ursprünglich aus Rojava stammten, hierher
       und schlossen sich der Revolution an.“
       
       Die kurdisch-syrische Miliz YPG, anfangs YXG genannt, die sich im Kampf
       gegen den „Islamischen Staat“ (IS) während des Bürgerkriegs einen
       internationalen Ruf erworben hat, ist 2011 entstanden. Doch als vorwiegend
       männliche Einheit. Frauen wie Abdullah, die gab es. Aber sie waren eher die
       Ausnahme. Weibliche Soldaten, von denen viele männliche Kameraden dachten,
       sie seien ihnen körperlich und kämpferisch unterlegen. Manche weigerten
       sich, zusammen mit Frauen in den Kampf zu ziehen. „Frauen können nicht
       schnell rennen“, sagte einer. „Frauen können nicht kämpfen“, ein anderer.
       
       Doch vor allem im Kampf gegen den IS konnten sich die Kämpferinnen
       beweisen. In Schlachten wie in Sinjar 2014, aber auch in Kobane und Afrin.
       IS-Anhänger fürchteten sie, weil in ihrem strengen Islam die Tötung durch
       eine Frau den Zutritt ins Paradies verhindert. Die Gründungskonferenz der
       YPJ am 4. April 2013 ist eine von Abdullahs wichtigsten Erinnerungen. 300
       Frauen, vier Kommandeurinnen, von denen inzwischen „nur eine noch lebt“.
       Die anderen sind alle im Kampf gefallen. Eine Revolution. „Es war schön,
       etwas, worauf man stolz sein kann“, sagt sie mit ruhiger Stimme.
       
       ## Sanft, aber entschlossen
       
       Bei Abdullah hat man manchmal den Eindruck, dass sie viel mehr sagen
       könnte, als sie tatsächlich tut. Gleichzeitig ist ihre Stimme fest, aber
       sanft. Macht, doch auch eine gewisse Fürsorge strahlt sie aus. Während ein
       Tablett mit süßem Schwarztee und arabischem Kaffee seinen Duft im Büro
       entfaltet, fragt Abdullah, ob die Klimaanlage in der Ecke zu stark sei, ob
       es uns kalt sei.
       
       Das Büro liegt nahe der Kleinstadt Hasakah, in einer staubigen Gegend, drum
       herum nur einige Restaurants und Geschäfte mit verrosteten Rollläden. Davor
       befindet sich eine kleine Oase, mit Sitzbänken unter den Bäumen und
       Blumenbeeten im Hof. Dieses Jahr hat die Verwaltung den neuen Hauptsitz der
       Einheit aufgebaut, sagt Abdullah stolz. Nur für die Frauen. Draußen graben
       noch Bagger Steine und Erde aus.
       
       Genau in diesem Jahr, dem Jahr, in dem die Existenz der YPJ so bedroht ist
       wie noch nie zuvor. Denn der Sprecher der ersten syrischen
       Übergangsregierung, Obeida Arnaout, hatte bereits früh klargemacht, dass es
       nicht in der „biologischen Natur“ der Frau sei, Waffen zu tragen. Nach dem
       Abkommen, das der Chef der kurdischen Streitkräfte SDF Mazloum Abdi und
       Syriens Präsident Ahmed al-Scharaa im März unterschrieben haben, sollen die
       SDF in die staatliche Armee integriert werden. Was mit der Fraueneinheit
       passiert, die sich inzwischen einen internationalen Ruf erarbeitet hat,
       wenn auch nicht ohne Kontroversen, ist noch unklar.
       
       Abdullah, dunkle Augen unter markanten Augenbrauen, redet nicht um den
       heißen Brei herum: „Wenn al-Scharaa uns nicht akzeptiert, dann werden wir
       ihn nicht akzeptieren.“ Sie lächelt. Die Revolution ist noch nicht zu Ende.
       
       ## Die Aussteigerinnen
       
       In einer gottvergessenen Gegend, zwischen Bohnenfeldern, Staub und roten
       Lehmhäusern, knapp vier Kilometer von der türkischen Grenze entfernt,
       erscheinen plötzlich die Tore eines weißen Metallzauns. In bunten
       Buchstaben steht darauf: Jinwar. Auf Kurdisch: Der Ort der Frauen.
       
       Hier befindet sich eines der sonderlichsten Frauenprojekte in Nahost.
       Umgeben von Feldern, auf denen Frauen den Boden unter der Sonne hacken,
       stehen um die 30 kleine weiße Häuser mit blauen Einfassungen. Sie bilden
       einen Halbkreis, in der Mitte sind Pavillons, Schaukeln und Beete. Drei
       Jungs spielen hier im Schatten.
       
       Eigentlich gibt es hier in Jinwar alles und noch mehr: Strom aus
       Solarpanels, Wasser, Gas – Dinge, die im restlichen Syrien Mangelware sind.
       Und eine Kita, eine Schule, sogar eine „Schutzeinheit“. Nur eines fehlt:
       Männer. Und das nicht ohne Grund.
       
       In Jinwar leben Frauen unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen
       Lebenslagen. Unter sich. Einige wollen heilen, andere zu sich selbst
       finden, andere noch mehr über den linken Feminismus à la Öcalan lernen.
       Weit weg von allem. Manche wollen ein Frauenbewusstsein entwickeln, wieder
       andere fliehen vor einem gewalttätigen Leben. Manche sind traumatisiert,
       ächzen noch unter der Last ihrer Vergangenheit, andere haben gerade
       angefangen, frei zu atmen.
       
       ## Ein Leben ohne Männer?
       
       In einer traditionell patriarchalisch geprägten Gesellschaft wie der
       kurdischen ist ein solches Projekt nahezu revolutionär. Zwar hat die
       Verwaltung in Rojava seit Jahren Gesetze eingeführt, die Kinderehen und
       Polygamie verbieten, gleiche Rechte bei Erben und eine von einem Mann und
       einer Frau geteilte Rolle bei Spitzenämtern in der Verwaltung vorsehen.
       
       Doch der gesellschaftliche Wandel schreitet langsamer voran als das Gesetz.
       Laut Daten der [3][NGO „Syrians for Truth and Justice“] sind zwischen 2019
       und 2022 in Nordostsyrien mindestens 129 Frauen bei Ehrenmorden getötet
       worden, 557 waren Opfer von häuslicher Gewalt. Unter der Verwaltung der
       kurdischen Streitkräfte SDF waren die Frauen hier, im Dorf der Frauen,
       willkommen. Doch jetzt? Unter der neuen syrischen Regierung, mit einem
       Ex-Islamisten als Anführer?
       
       „Ich wollte ausprobieren, ob es für eine Frau möglich ist, ihr gesamtes
       Leben ohne einen Mann zu managen“, sagt die 50-jährige Sama*, die in
       Wahrheit anders heißt. „Und mehr über Frauenrechte lernen.“ Sama sitzt im
       Gemeinschaftshaus, einem einstöckigen Bau mit weißem Putz und bunten
       Teppichen. Sie nippt an einem Glas süßen Schwarztees und erzählt, ihr Mann
       sei als Soldat mit den YPG-Einheiten beim Kampf um Aleppo ums Leben
       gekommen. Daher sei sie mit ihren drei jüngeren Kindern vor anderthalb
       Jahren aus der Stadt hierhergezogen.
       
       Sama hat einen entschlossenen Blick hinter der Brille, sie lächelt viel und
       gestikuliert viel. Die schwarzen Haare trägt sie gebunden, ihre Brille
       hängt an einem Band um den Hals über der blauen Sportjacke. Um 6 Uhr steht
       sie auf, jeden Tag, und geht mit den anderen Frauen der Schutzgruppe die
       Außengrenze des Dorfes inspizieren. „Wir sind in einer Kriegssituation“,
       mahnt sie. Im vergangenen Jahr gab es [4][türkische Drohnenangriffe] in der
       Nähe, die Frauen mussten evakuiert werden, zwei Tage lang.
       
       ## Ernten, putzen – Nietzsche lesen
       
       Nach dem Schutzdienst kehrt Sama zurück in ihr weißes Haus, das zweite
       hinter dem Eingangstor, und macht die Kinder fertig für die Schule, die
       kaum 100 Meter entfernt liegt. Nur der Älteste fährt mit dem Bus ins
       nächste Dorf. Dann sind Treffen angesagt, um das Leben im Dorf zu
       organisieren, Aufgaben zu verteilen, aber auch um über Kunst und
       Wissenschaft zu diskutieren. Und Handarbeit: Taschen, Armbänder, Ketten
       liegen ausgestellt im nächsten Raum. Das Dorf finanziert sich eigenständig
       durch den Verkauf von überschüssigem Gemüse, Getreide, Schafsprodukten,
       Handwerklichem. Und teilweise durch Spenden.
       
       Zum Mittagessen geht jede Frau zurück nach Hause. Nachmittags sind die
       Kinder im Kunst-, PC- und Jugendzentrum, die Frauen arbeiten, auf den
       Weizen- und Linsenfeldern, mit Schafen, im Reparatur-, Verwaltungs- oder
       Putzdienst, abends geht Sama mit ihren Kindern spazieren in die Natur. Sie
       liest, ihr Lieblingsautor ist Nietzsche. Und Öcalan, natürlich. Es ist ein
       einfaches Leben, aber eines, das sie erfüllt. Von dem sie früher nicht
       dachte, dass es überhaupt möglich sei.
       
       In der Dorfschule, in der Kinder bis zur sechsten Klasse lernen, lehrt
       Shirin. Shirin kam vor acht Monaten aus der nordöstlichen Stadt Qamishli.
       Weil sie „die Idee des Projekts mochte“. Frauen, die Brot backen, Wasser
       verteilen, Stromaggregate betreiben. Die für sich selbst sorgen. Sie sitzt
       neben Sama, unter einem überdimensionalen Porträt von Abdullah Öcalan,
       daneben noch ein Bild der iranischen Freiheitsikone Mahsa Amini.
       
       Die Schule sei ihr Lieblingsort im Dorf, sagt sie und lächelt sanft. Weil
       sie hier sowohl Erwachsene als auch Kinder unterrichtet. Ein gesamter
       Lebenszyklus. Zwölf Schüler*innen hat sie, von der Kita bis zum dritten
       Jahr. Sprachen, Mathematik, Kultur, Kunst. „Solange es Kinder gibt, die
       Bildung brauchen, werde ich hier bleiben“, sagt sie über die Zukunft.
       Kinder hat sie keine, ihre Familie befürwortet ihre Mission.
       
       ## Sorge um die Zukunft
       
       Für Sama ist hingegen alles offen, noch weiß sie nicht, wie lange sie im
       Dorf der Frauen bleibt. Männliche Kinder der Bewohner*innen dürfen auch
       nach ihrem 18. Geburtstag bleiben, solange sie unverheiratet sind. Heimweh
       hat sie manchmal. Noch ist es aber nicht so stark, dass sie zurückmuss. Und
       für die Kinder sei das Leben in der Natur auch besser.
       
       Shirin führt quer durch das Dorf zu ihrer Schule, einem runden Gebäude mit
       hölzernen Sitzbänken und einem Schwalbennest unter dem Dach. Weiße,
       getrocknete Farbe klebt an ihren Händen, gerade eben war sie am Streichen.
       Die Schule ist leer, wird gerade renoviert.
       
       Noch geht das Leben im Dorf weiter, so wie vor der Machtübernahme der
       Ex-Islamisten in Syrien. Doch im Januar haben die Frauen auf ihrer Webseite
       einen besorgten Post veröffentlicht. Vor allem um die Angriffe durch
       Türkei-nahe Streitkräfte in der Region ging es, die mit der HTS verbunden
       sind. Jetzt herrscht eine inoffizielle Waffenruhe zwischen Rojava und der
       Türkei, und die Probleme, die die Existenz des Dorfes gefährden, sind eher
       finanzieller Natur. Jemand, der sich mit der Lage auskennt, doch kein
       Interview geben will, sagt, das Dorf brauche dringend Geld. Damit es weiter
       funktionieren kann.
       
       Für viele ist dies eine existenzielle Frage. Hier, sagt Sama, hat sie
       Solidarität unter Frauen entdeckt. Kooperation statt Kämpfe. Eine
       gleichberechtigte Erziehung für ihre Kinder. Eine Identität. Stärke.
       Frieden, wenn auch ein fragiler.
       
       ## Die Aktivistin
       
       Es ist nachts, and Lujain Hamzah lenkt den Wagen auf einen dunklen Weg in
       der südlichen Kleinstadt Suweyda. Sie lässt das Lenkrad beim Abbiegen unter
       den Händen gleiten, tritt aufs Bremspedal und zieht die Handbremse. Sie
       steigt aus und geht mit festem Schritt auf die Mitte des Straßenkreisels
       zu, zeigt auf eine leere Stelle über dem dunklen Gebäude vor ihr. Etwas
       hing vor der runden Fassade – etwas, was es jetzt nicht mehr gibt.
       
       „Genau da war das“, sagt sie. Hamzah, braune Haare, die Augen mit Kajal
       unterstrichen, 35 Jahre alt, ist Drusin. Als Assad noch an der Macht war,
       als die Bilder der Proteste in Suweyda noch nicht in den westlichen Medien
       gezeigt wurden, da stand Hamza bereits auf dem Platz und rief Parolen gegen
       das Regime.
       
       An der leeren Stelle hing noch vor einem halben Jahr das Bild von Baschar
       al-Assad. Das Bild, das Hamzas Kommilitonen abzuhängen versuchten, als die
       Soldaten das Feuer eröffneten. Es war der 6. Dezember 2022, und die
       Demonstrierenden befanden sich vor dem Rathaus, als die ersten Schüsse
       fielen.
       
       Wenn es um Proteste geht, ist Hamzah routiniert. Angst scheint die
       Aktivistin, sie arbeitet heute als Schauspielerin und früher als Ärztin,
       nicht zu kennen. Doch als sie am 4. Dezember 2022 auf dem Platz stand,
       überkam sie die Furcht. „Ich war so wütend, ich war so frustriert. Am
       Anfang drohten die Soldaten nur. Ich stand mitten auf dem Platz, allein,
       und rief den anderen zu: ‚Kommt zurück, kommt zurück!‘“ Ich sagte zu den
       Teenagern, die noch da waren, wir sollten das Bild abhängen. Es war das
       Letzte, was ich sagte.“
       
       ## Assad ist weg, aber das reicht nicht
       
       Als sie die Schüsse hörte, rannte Hamzah. Zu den Geschäften in den engen
       Gassen, hinten rechts, sie drehte sich nicht um, lief, so schnell sie
       konnte, zu einem Schuhladen, dessen Tür noch offen stand. Die Schüsse waren
       laut, erzählt Hamzah, so laut, dass man einander nicht hören konnte. Sie
       versteckte sich.
       
       An dem Tag starb ein junger Demonstrant. Laut Medienberichten hätten
       Protestierende das Rathaus gestürmt, ein Polizist kam ebenfalls ums Leben.
       Schrecklich war das. Und doch machte die Aktivistin Hamzah weiter. Warum?
       Sie sagt: „Wir standen vor verschlossenen Türen.“ Es war die Korruption,
       die Diktatur, die Gewalt. Aber auch die Perspektivlosigkeit.
       
       Als Künstlerin fühlte sich Hamzah unter Assad nicht frei, ohne
       Möglichkeiten, chancenlos. Heute noch ärgert sie sich darüber. Und nach
       ihrer Teilnahme an den Protesten, sagt sie, sei sie gefeuert worden. Sie
       organisierte dann selbst Demonstrationen, hauptsächlich für mehr
       Frauenrechte und gegen Ehrenmorde. Sechs Monate zuvor ging sie sogar vor
       den Gerichtshof. Um zu fordern, dass das Gesetz gegen Ehrenmorde
       eingehalten wird. Denn im Jahr 2020 wurde der entsprechende Paragraf 548
       abgeschafft, sodass sogenannte Ehrenmörder mit Strafreiheit davonkommen
       konnten.
       
       Auch nach dem Fall Assads ist Hamzah weiterhin kämpferisch. „Wir haben
       jetzt die erste Etappe geschafft“, sagte sie. Jetzt solle man nicht nur
       Assad wegfegen, sondern auch Assads Mentalität. Das Diktatur-Denken, das
       „Entweder ich oder das Land brennt“, meint sie. Sie wünsche sich ein
       säkulares, vielfältiges Syrien. Als Frau aus einer religiösen Minderheit
       habe sie Angst, sagt Hamzah. Die islamistische Vergangenheit der neuen
       Machthaber und ihrer Verbündeter schreckt sie.
       
       ## Das Recht auf Gewaltlosigkeit
       
       Die bisherigen Ereignisse stützen ihre Zweifel. Im März starben durch
       konfessionsgebundene [5][Gewalt zwischen Assad-Loyalisten und sunnitischen
       Extremisten] mehrere hundert alawitische Zivilist*innen. Seitdem mehren
       sich die Meldungen über alawitische Frauen, die an öffentlichen Orten
       angeblich entführt werden. Ende April begannen Konflikte zwischen Drusen
       und nicht genauer definierten, extremistischen Sunniten, die mehr als 100
       Menschen das Leben kosteten. Die Regierung sprach bei den Angreifern von
       „Gesetzlosen“.
       
       Im Mai stürmten Bewaffnete mehrere Nachtlokale und töteten dabei eine junge
       Frau. Im Juni nahmen Extremisten Christ*innen ins Visier, bei einem
       [6][Selbstmordanschlag in einer Kirche] in Damaskus kamen 25 Menschen ums
       Leben. Eine Organisation von ehemaligen IS- und HTS-Kämpfern bekannte sich
       zu dem Anschlag, doch die syrische Führung spricht von einer Zelle des IS.
       
       Die Regierung hat zwar in allen Fällen Gerechtigkeit versprochen und die
       Vorfälle verurteilt, doch ob sie wirklich in der Lage ist, die Gewalt gegen
       Minderheiten und auch gegen Frauen zu verhindern, hat sich bislang nicht
       bestätigt.
       
       *Name von der Redaktion geändert
       
       1 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Die-HTS-in-Syrien/!6049870
   DIR [2] /Ende-des-Assad-Regimes-in-Syrien/!6055163
   DIR [3] https://stj-sy.org/en/
   DIR [4] /Journalist-ueber-tuerkische-Angriffe/!6058998
   DIR [5] /Gewalt-in-Syrien/!6074183
   DIR [6] /Terror-in-Syrien/!6092883
       
       ## AUTOREN
       
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