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       # taz.de -- Kollektiv gegen Dystopien: Keine Zeit für Pessimismus
       
       > Untergangsszenarien eignen sich nicht, dem zunehmenden Autoritarismus zu
       > begegnen. Das Autor:innenkollektiv The Possibilist hat positive
       > Thesen.
       
   IMG Bild: Hoffnung statt Resignation: Für eine demokratische Zukunft braucht es Mut zum Wandel
       
       Im Juni 1941 sitzen drei Gegner Mussolinis – der Ex-Kommunist Altiero
       Spinelli, der Nationalliberale Ernesto Rossi und der europäische Föderalist
       Eugenio Colorni – auf der Insel Ventotene nördlich vor Neapel zusammen, wo
       sie von Mussolini interniert worden sind. Zu diesem Zeitpunkt streben die
       Achsenmächte zur Weltherrschaft, der Krieg hat schon Zigtausende Tote
       gefordert, die Vernichtung der europäischen Juden schreitet voran.
       
       Die drei Männer haben keine Bataillone und keine Netzwerke, nur ihre
       Hoffnung. Auf Zigarettenpapier formulieren sie ein „Manifest für ein
       föderales Europa“, Teile davon werden im Bauch eines Brathuhns aus dem
       Lager gebracht und zirkulieren in Italien. Nach ihrer Freilassung 1943
       gründen sie das Movimento Federalista Europeo, dessen Ideen sich im
       europäischen Widerstand verbreiten. Die alte Welt liegt in Trümmern, sie
       setzen auf ein freies Europa.
       
       Jüngst veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung ein [1][Manifest,
       das den Faschismus als aktuelle Gefahr] beschwor. Dass sich die mehr als
       vierhundert Unterzeichner vor allem aus der Wissenschaft zu „kollektiven
       Aktionen, lokal und international“ verpflichten, auch zu „boykottieren und
       streiken, wann immer dies erforderlich und möglich ist“, unterstützen wir.
       In einigen Ländern ist ziviler Ungehorsam die letzte Chance, nicht nur die
       Freiheit der Wissenschaft zu schützen, sondern generell Grundrechte und
       Bürgerfreiheiten.
       
       Ein solcher Appell war überfällig. Doch für eine politisch wirkungsvolle
       Antwort fehlt einiges oder ist nur angedeutet. Dem Postulat „internationale
       Zusammenarbeit […], um die Beziehungen zwischen den Nationen zu regeln“,
       fehlt ein entscheidender Begriff, der heute wie 1945 auf der Hand liegt:
       Europa. Dem Wunsch nach „breit angelegten Beteiligungsprozessen“ mangelt es
       an konkreten Ideen und Institutionen zur Demokratisierung der Demokratie,
       der es weltweit an Glaubwürdigkeit und Repräsentativität mangelt. Zum
       Beispiel Bürger- und Zukunftsräte als eine Art vierte Gewalt. Wenn
       willkürliche Inhaftierungen, Gewaltandrohungen, Abschiebungen beklagt
       werden, fehlen Personen und Gruppen, denen man konkrete Hilfe leisten will
       und kann.
       
       Wo zum Kampf gegen Desinformation und Propaganda durch „Technofaschisten“
       aufgerufen wird, erwartet man die Adressen der „Medienmogule“, die sich die
       Informations- und Kommunikationstechnologien angeeignet haben, mit denen
       sie Desinformation betreiben und „die Zone mit Sch… fluten“, wie Trumps
       Ex-Berater Steve Bannon proklamierte.
       
       Wenn dann sehr allgemein demokratische Institutionen als „Rahmen zur
       Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten und die größte Hoffnung auf Erfüllung
       der Nachkriegsversprechen: das Recht auf Arbeit, Bildung, Gesundheit,
       soziale Sicherheit, Teilhabe am kulturellen und wissenschaftlichen Leben
       sowie das kollektive Recht der Völker auf Entwicklung, Selbstbestimmung und
       Frieden“ gerühmt werden, wäre der Verweis auf das Versagen dieser
       Versprechen angebracht. Wo zuletzt die [2][„existenzielle Bedrohung der
       Klimakrise“ Thema wird,] muss gesagt werden, dass sie nicht nur von
       Proto-, Semi- und Vollfaschisten geleugnet, sondern von demokratischen
       Regierungen vernachlässigt wird. Ebenso dass sich diese oft zum Handlanger
       einer [3][repressiven Migrations- und Flüchtlingspolitik] machen lassen,
       die faschistische Bewegungen und Parteien fordern.
       
       Das heißt: Wer heute den Faschismus bekämpft, muss in Europa, Amerika und
       weltweit deutlicher machen, für welches „Pro“ man einsteht: Formal ist das
       für uns die Idee eines „demokratischen Föderalismus“. Das geeinte Europa
       ist eine Alternative zur Großmachtpolitik, deswegen wird es von
       neoimperialen Mächten gehasst.
       
       ## Keine Verbote, sondern befürwortete Veränderungen
       
       Inhaltlich plädieren wir für politische Interventionen und Regulierungen,
       die den Klimawandel und das Artensterben eindämmen, mit einem pfleglichen
       Umgang mit der Erde, für eine bessere Lebenswelt in Stadt und Land, eine
       sinnvolle Arbeitswelt. Wenn Bürgerinnen und Bürger nach der Coronapandemie
       und in den aktuellen Kriegen veränderungsmüde sind, darf man ihnen nicht
       mit Verboten und Verzichtsleistungen kommen, erst recht nicht mit
       apokalyptischen Vorhersagen. Sondern mit Veränderungen, die sie im Kern
       selbst mehrheitlich befürworten und vorantreiben.
       
       Von Disruption reden die neuen Alleinherrscher, von der Rückkehr zum
       Wirtschaftswachstum die hilflose Mitte. Nur eine bürgernahe „Politik der
       Ermöglichung“ kann die blockierten Transformationskonflikte aufbrechen, die
       eine Fixierung auf den Status quo und die Beschwörung „der guten, alten
       Zeit“ mit sich bringen. Denn irgendwie ahnen ja alle, dass es so, wie es
       derzeit läuft, nicht weitergehen kann.
       
       Der russische Machthaber Wladimir Putin und US-Präsident Donald Trump haben
       die Büchse der Pandora geöffnet und der Welt größte Unsicherheit beschert.
       Im antiken Mythos führt Pandora einen großen Krug mit sich, der alle Übel
       der Welt, aber auch Hoffnung enthält. Den Behälter soll sie den Menschen
       schenken, aber sagen, sie dürften ihn auf keinen Fall öffnen. Doch sie
       erliegt der Versuchung, öffnet die Büchse, das ganze Sortiment an
       Untugenden entweicht. Bevor Hoffnung entströmen kann, wird die Büchse
       geschlossen, weshalb sich in einer trostlosen Welt keine Hoffnung mehr
       entfalten kann.
       
       Wir lesen diese Geschichte anders: Man sollte Pandoras Büchse nicht zu
       rasch wieder verschließen. Nur so kann sich eine dem Ernst der Lage
       angemessene Hoffnung verbreiten. So wie 1945 kaum jemand die Europäische
       Union und 1988 kaum jemand den Fall der Mauer vorhergesehen hatte, hätte
       auch niemand den Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad
       prognostiziert, das Ende einer der krassesten und menschenfeindlichsten
       Diktaturen der Welt. Auch in Europa und in den USA kann die Entwicklung in
       Richtung Autoritarismus umgekehrt werden. Wir brauchen neue Ideen für diese
       neue Welt. Resignation ist Luxus, Pessimismus ist Zeitverschwendung.
       
       3 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.faz.net/aktuell/wissen/ein-manifest-gegen-die-rueckkehr-des-faschismus-110534388.html
   DIR [2] /Greenpeace-Moderatorin-ueber-Klimawandel/!6083550
   DIR [3] /Wartezeit-fuer-die-Einbuergerung/!5877105
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claus Leggewie
   DIR Daniel Cohn-Bendit
   DIR Klaus Lederer
   DIR Maike Weißpflug
   DIR Alexander Karschnia
   DIR Autor:innenkollektiv The Possibilist
       
       ## TAGS
       
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