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       # taz.de -- Nachhaltig wohnen und renovieren: „Die Dinge sind ja schon alle da“
       
       > Fast Fashion gilt auch im Wohnbereich – das ist nicht nachhaltig. Wie es
       > anders geht, zeigt der Verein Kunst-Stoffe mit der
       > Zero-Waste-Musterwohung.
       
   IMG Bild: Corinna Vosse und Jan-Micha Gamer vom Kunst-Stoffe e. V. in der Zero-Waste-Musterwohnung in Pankow
       
       Berlin taz | Aus alt mach neu: Beim Renovieren und Einrichten von Wohnungen
       bedeutet das in den meisten Fällen: bergeweise Müll. Da werden Tapeten von
       den Wänden und Böden herausgerissen, alte Möbel und Einrichtungsgegenstände
       gegen neue ersetzt – und das in immer kürzeren Zyklen. Fast Fashion gilt
       auch im Wohnbereich. Nicht zufällig haben viele Bekleidungsunternehmen ihr
       Sortiment um Wohnaccessoires erweitert.
       
       Das Ergebnis mag am Ende hübsch sein, die Klimabilanz ist es nicht und auch
       das Stadtbild lässt zu wünschen übrig. Nach eigenen Angaben sammelt die
       Berliner Stadtreinigung jährlich 39.000 Kubikmeter illegal entsorgten Müll
       von den Straßen Berlins – großteils Möbel und Wohnaccessoires.
       
       Das muss nicht sein, findet der [1][Berliner Verein Kunst-Stoffe] und
       zeigt, dass Renovieren, Einrichten und Wohnen auch nachhaltig sein kann.
       Die Zero-Waste-Musterwohnung nahe des S-Bahnhofs Pankow ist ein Projekt
       mitten aus dem Alltag: „Gemäß einer neuen Studie des Umweltbundesamtes
       verbringen Menschen zwischen 25 und 69 täglich durchschnittlich 14 Stunden
       in der eigenen Wohnung“, erklärt der Verein. „Unsere Art zu leben wird also
       maßgeblich von unserer Art zu wohnen beeinflusst.“
       
       Angesprochen werden sollen vor allem Privatpersonen, die meisten richten
       ihre Wohnungen ja selbst ein, so wie viele selbst tätig werden, wenn
       Reparaturen oder Renovierungen anstehen. Aber auch Profi-Handwerker:innen
       sind eingeladen, sich in der Zero-Waste-Musterwohnung Inspirationen zu
       holen.
       
       ## Die erste Frage
       
       Hinter der sperrangelweit aufstehenden Tür finden sich zwei Räume plus
       Küche einer unsanierten Altbauwohnung. „Die erste Frage sollte immer sein,
       was kann ich mit dem, was schon da ist, noch realisieren?“, sagt Corinna
       Vosse, Geschäftsführerin von Kunst-Stoffe. Im Wohnzimmer zeigen sie und ihr
       Kollege Jan-Micha Gamer, was das konkret bedeutet. Dort fand der Verein
       einen alten PVC-Boden vor.
       
       „Wir haben erst mal in einer Ecke geschaut, was wir darunter finden, und
       diese Holzplatten entdeckt, nicht besonders schön und teilweise auch
       kaputt. Darunter befinden sich zwar noch Dielen, aber das wäre viel Arbeit,
       die freizulegen und abzuschleifen“, erzählt Vosse. „Da habe ich nicht nur
       einen gesamten Container voll Müll, sondern zusätzlich einen großen
       Arbeitsaufwand plus Maschineneinsatz“, ergänzt Gamer.
       
       Deshalb entschloss das Team, den PVC-Boden aufzuarbeiten. „Wir haben eine
       Malerfirma aus Kreuzberg herangezogen, die uns beraten hat, welche Farbe
       man am besten einsetzt und wie man das vorbehandeln muss“, berichtet
       Corinna Vosse. Das Ergebnis ist ein mattgrauer Boden, der wegen eines
       Speziallacks auf Acrylbasis geruchsfrei, ökologisch unbedenklich und
       obendrein äußerst resistent ist. Kosten: 62 Euro und rund sechs
       Arbeitsstunden.
       
       Blieb noch die Frage, wie mit der „Versuchsecke“ umzugehen ist, in der die
       Holzplatten testhalber freigelegt wurden. „Das muss man vorher natürlich im
       Kopf haben, dass diese Ecke anders aussehen wird“, sagt Jan-Micha Gamer.
       Die Gestalter:innen entschieden sich für eine Sitzecke, den Boden
       strichen sie in transparentem Rot. Es hebt den Sessel hervor, der nun
       darauf platziert ist und ebenfalls ein Beispiel nachhaltiger
       Einrichtungspraxis darstellt: Die defekten Stellen im Bezug wurden per
       Stopftechnik geflickt. Das macht den Sessel nicht nur bunt, sondern auch
       zum Unikat. Alles, was es dafür brauchte, waren etwas Stopfgarn und Geduld.
       
       ## Wiederentdeckte Haushaltstricks
       
       Derart einfache Reparaturpraktiken gehörten einmal zum Standardrepertoire
       eines jeden Haushalts, heute kennt sich kaum noch jemand damit aus. Ein
       Grund, warum Kunst-Stoffe zahlreiche Workshops anbietet, in denen
       Vereinsmitglieder oder Kooperationspartner:innen ihre Kenntnisse
       weitergeben. Neben wiederentdeckten Haushaltstricks werden auch neu
       entwickelte Techniken vermittelt.
       
       Ein Beispiel ist die Herstellung eines Materials zum Verputzen und
       Verzieren von Wänden. „Wir haben hier zwei, drei Schichten Raufaser von den
       Wänden gekratzt“, erklärt Produktgestalter Jan-Micha Gamer. „Die haben wir
       in Fetzen gerissen und mit Kleister und Speisestärke zu einer Masse
       verrührt, so ähnlich wie Pappmaché. Das härtet gut aus und eignet sich
       ideal als Putz oder zur Oberflächengestaltung. Auch ist das Material robust
       und kann super eingefärbt werden.“ Er deutet auf verschiedenfarbige
       Beispiele an der Wand. An einer Stelle wurde aus der Masse eine stuckartige
       Wandverzierung gemacht. Nicht nur die Form, auch die natürliche Ockerfarbe
       lässt an antike griechische Bauten denken. Materialkosten: gleich null. Und
       für die olle Raufaser ist eine sinnvolle Verwendung gefunden.
       
       „Man kann sich aber auch entscheiden, einen Teil der Raufasertapete
       hängenzulassen und als Gestaltungselement zu nutzen“, sagt Corinna Vosse.
       An der Wand über der Sitzecke ist ein Stück alte Tapete gelb eingefärbt und
       mit Holzleisten umrahmt worden. Selbstverständlich stammt dieses Material
       nicht aus dem Baumarkt, sondern [2][aus einem der beiden Materialmärkte]
       von Kunst-Stoffe.
       
       Mit der Idee, gebrauchtes Material zur Wiederverwertung zu sammeln, ist
       Corinna Vosse gestartet, als sie mit ihrer Mitstreiterin Frauke Hehl 2006
       Kunst-Stoffe gründete. Vorbild dafür war das Projekt „Materials for the
       Arts“, das Vosse in New York nutzte, als sie dort als Objekt- und
       Installationskünstlerin tätig war. Über die Jahre hat Kunst-Stoffe
       zahlreiche Kooperationen mit Messebau- oder Eventfirmen etabliert, aber
       auch Privatpersonen können nach Absprache Materialien spenden, die jede:r
       zu günstigem Preis einkaufen kann.
       
       ## Lattenroste sind ein gutes Beispiel
       
       Was mit vielen Materialien kostenlos mitgeliefert wird: Inspiration.
       Zufällige Funde sind oft der beste Ausgangspunkt für ein besonderes Design.
       So wäre etwa die kunterbunte Dekoration vor dem Fenster ohne die vielen
       bunten Plastikbälle aus einem alten Kinder-Bällebad sicher nie erfunden
       worden. Das gilt auch für die handgefertigten Möbel in der
       Zero-Waste-Musterwohnung. Ein Hocker, ein Korb und ein Tisch sind
       Ergebnisse eines weiteren Tätigkeitsfelds des Vereins, der
       Materialforschung. „Hier haben wir mit einem Bettenhändler
       zusammengearbeitet, die Rückläufer aufgenommen und aus den Latten
       verschiedene Produkte entwickelt“, so Corinna Vosse.
       
       Lattenroste sind ein gutes Beispiel, wie kleine gesetzliche Bestimmungen
       große Mengen Müll produzieren können. Bettgestelle, die Retour gehen,
       dürfen laut Gesetz nicht weiterverkauft werden. Natürlich ist es gut, wenn
       Vereine wie Kunst-Stoffe sich dieser enormen Materialmengen annehmen. Noch
       besser, weil nachhaltiger und einfacher, wäre es jedoch, die gesetzlichen
       Vorgaben zu ändern.
       
       Solche Erkenntnisse zu politischen Forderungen zu verarbeiten, ist eine
       weitere Aufgabe von Kunst-Stoffe, der Verein arbeitet mit diversen NGOs
       zusammen. Diese wiederum unterstützen den Verein bei Projekten mit
       finanziellen Zuwendungen. Die Zero-Waste-Musterwohnung etwa wird von der
       [3][Stiftung Naturschutz Berlin] gefördert.
       
       Neben der Entwicklung von Ideen, wie beim Renovieren und Einrichten von
       Wohnungen möglichst kein Müll produziert wird, gehört auch das Nachdenken
       über die Art und Weise des Wohnens zum Konzept. Ein lila Teppich mag gerade
       modisch sein, aber gefällt er in drei Jahren noch?
       
       Im Kinderzimmer der Musterwohnung lässt sich an kreisförmigen Aussparungen
       in einer Holzwand sehen, dass man das Wachsen eines Kindes von Beginn an
       mitdenken kann. Das aus einer alten Schublade gefertigte Regal lässt sich
       darin auf verschiedenen Höhen feststecken. So auch die Ablage, die mit
       Begrenzungen am Rand als Wickeltisch erst höher und später, umgedreht und
       zum Kindertisch transformiert, tiefer montiert wird.
       
       Lang leben soll auch der Teppichboden, der aus vielen bunten Fliesen
       besteht. Diese können einzeln herausgenommen werden, um sie zu reinigen, zu
       ersetzen oder gegen andersfarbige zu tauschen. „Der Großteil dieser Fliesen
       entstand aus Teppichresten“, sagt Jan-Micha Gamer. „Wenn wir welche dazu
       kaufen, dann achten wir darauf, dass diese aus recyclebarem Material
       bestehen.“ Denn auch darauf will der Verein mit der Zero-Waste
       Musterwohnung aufmerksam machen: Wenn schon etwas neu gekauft werden soll,
       dann bitte aus einem wiederverwertbaren und langlebigen Material. Handelt
       es sich um ein fertiges Produkt, so sollte es unbedingt reparaturfähig
       sein.
       
       Für Corinna Vosse und Jan-Micha Gamer gibt es nichts, was sie sich neu
       anschaffen würden. „Die Dinge sind ja schon alle da“, sagt Vosse.
       „Mittlerweile muss ich sie auch nicht mehr auf der Straße finden, es gibt
       ja tausend Plattformen wie [4][nebenan.de] oder Kleinanzeigen“, ergänzt
       Gamer, „manche unterstützen einen sogar mit KI bei der Suche.“ Das
       Wichtigste sei, sich nicht allzu sehr auf eine bestimmte Sache
       einzuschießen, raten die beiden Umweltaktivisten. Wenn man offen sei für
       das, was einem zufällig begegne, werde man sicher fündig. Das Problem ist
       nicht, dass es etwas nicht gibt, sondern dass von allem zu viel da ist.
       
       17 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://kunst-stoffe-berlin.de/ueber-kunst-stoffe-e-v/
   DIR [2] https://kunst-stoffe-berlin.de/materialmarkt-pankow/
   DIR [3] https://www.stiftung-naturschutz.de/
   DIR [4] https://nebenan.de/
       
       ## AUTOREN
       
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