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       # taz.de -- Ukrainische Schauspielerin Iryna Lazer: Allein mit der Verzweiflung über diesen Wahnsinn
       
       > Die Ukrainerin Iryna Lazer lassen die Traumata des Krieges nicht los.
       > Ihre Theaterarbeit ist von Erfahrungen von Flucht, Exil, und Rückkehr
       > geprägt.
       
   IMG Bild: Der Musikerin Iryna Lazer gelang mit ihrer Tochter die Flucht ins temporäre Exil, Berlin, am 23.2.2024
       
       Wird das Sprechen über Krieg und persönliche Traumata leichter, wenn Zeit
       vergeht? 2022 erarbeitete Iryna Lazer alias Mavka im Berliner Exil ein
       Musiktheaterstück auf der Grundlage von Zeugnissen aus der russischen
       Besatzung – eine Kampfansage an den Wahnsinn der Kriegsrealität.
       
       Als das Stück 2025 wieder in Berlin gastiert, sieht die ukrainische
       Sängerin und Regisseurin sich mit der Frage konfrontiert, was das Stück
       über drei Jahre nach Beginn des großen Krieges noch bewegen kann.
       
       „Wir flohen, die Kampfjets vertrieben uns aus unserem Haus. Mein Zuhause
       und die Häuschen auf meiner Straße wurden von den ‚Frieden‘ bringenden
       Maschinen des Todes eingenommen. Ich will nicht wissen, was passiert wäre,
       hätten wir es nicht geschafft zu entkommen – wie so viele andere. Zwar
       haben wir unser Haus verloren, aber wir leben! Wir kämpfen für das Leben,
       unser Land, für die Ukraine!“
       
       Diese Notizen veröffentlichte Iryna Lazer am 25. Februar 2022 zusammen mit
       Aufnahmen einer Überwachungskamera auf Instagram: Es ist ein Zeitzeugnis
       ihrer Flucht aus [1][Hostomel], einem Vorort von Kyjiw, von der Ausweitung
       des russischen Angriffskriegs. In diesen Tagen rückte die russische Armee
       auf Kyjiw zu.
       
       Brutalste Kriegsverbrechen 
       
       Hostomel, [2][Irpin], [3][Butscha] – dies sind nur einige Siedlungen, die
       in diesen Tagen eingenommen und schwer zerstört wurden, wo die Besatzer
       brutalste Kriegsverbrechen verübten. Auch unweit des Hauses der Lazers
       wurden Zivilist*innen erschossen – Verbrechen, bei deren Aufarbeitung
       Iryna Lazers Mann Taras mitgewirkt hat. Anfang April, mit Befreiung des
       Kyjiwer Umlands, wurde das Ausmaß der russischen Gewalt offensichtlich:
       wahllose Erschießung von Zivilist*innen, Vergewaltigungen, Gräueltaten.
       
       Der Musikerin Iryna Lazer gelang mit ihrer Tochter die Flucht ins temporäre
       Exil. Ihre Fluchtgeschichte – die Route führte zunächst in die Westukraine
       und dann, ohne Mann, über Polen nach Berlin – brachte sie in der Reihe
       „Stories from Exile“ im Herbst 2022 am Berliner Ensemble auf die Bühne.
       
       Die studierte Sängerin und Schauspielerin, die seit 2013 als Mavka
       auftritt, nutzte Dutzende Gelegenheiten, um dem ukrainischen Schicksal auf
       Demos und Solidaritätskonzerten Gehör zu verschaffen. Ihr
       Überlebensprinzip: arbeiten, um nicht nachdenken zu müssen – über die
       Distanz zu ihren Nächsten, über die historische Katastrophe, die ihre
       Heimat existenziell bedroht und in ein lebensgefährliches Kriegsgebiet
       verkehrt.
       
       Innere Blockaden 
       
       Wie schwer ihr der Umgang mit der eigenen traumatischen Kriegserfahrung
       wirklich fiel, erzählt sie im (Video-)Interview: „Obwohl ich nicht gesehen
       habe, wie jemand getötet wird, keine familiären Verluste beklagen muss,
       verlor ich die Kontrolle über meinen Körper, wenn es darum ging, auf der
       Bühne über meine Flucht zu sprechen“, beschreibt die 1983 in Tscherniwzi
       geborene Lazer diese innere Blockade.
       
       „Ich kam zur Erkenntnis, dass ich mit den Geschichten anderer Menschen
       arbeiten und sie als meine eigenen erleben müsse: als Regisseurin, als
       Schauspielerin.“ Im anhaltenden Kriegszustand gelang es ihr nicht, sich des
       eigenen Traumas anzunehmen. „Ich kann ihm nicht entfliehen, weil es mir in
       gewisser Weise an innerer Stärke fehlt.“
       
       Um dennoch künstlerisch mit der ukrainischen Realität arbeiten zu können,
       begann Lazer, die eigene Kriegserfahrung mit dokumentarischen
       Zeitzeugnissen zu verflechten. Am [4][Berliner TD-Theater] entwickelte sie
       ein Stück für zwei Charaktere, Anja und Ninka, verkörpert durch sie selbst
       und den Schauspieler Ivan Doan.
       
       Das Stück „Shalene/Ver-rückt“, das im Mai 2023 uraufgeführt wurde und
       anschließend in Spielstätten in Deutschland und Polen gastierte, erzählt
       Geschichten aus der Besatzungszeit, von Vergewaltigung, tragikomischen
       Alltäglichkeiten oder Glücksmomenten über die Befreiung.
       
       Angreifbare Wahrheiten 
       
       Die Regisseurin verarbeitete Zeugnisse mehrerer Dorfbewohnerinnen, die
       aufgrund ihres Alters zwei Angriffskriege erleben mussten, aufgezeichnet
       von Taras Lazer und Roman Synchuk für die NGO Ukraine War Archive. Wenn
       einen die Kriegserfahrung eines lehrt, dann wohl, wie angreifbar Wahrheiten
       sind: „Werke über den Krieg müssen vor allem eines sein: ehrlich“, sagt die
       zierliche 42-Jährige bestimmt.
       
       Zentrales Element des audiovisuellen Schauspiels, in dem ukrainische und
       deutsche Volkslieder eine elektronische Soundcollage bilden, ist das Lied
       „Schalene“ (Verrückt) – es zieht sich als wiederkehrendes Motiv durch den
       einstündigen Theaterabend.
       
       Darin wird ein Mädchen im Traum von einer zerstörerischen Gewalt
       heimgesucht: Für Lazer eine Analogie für das ursprüngliche russische
       Vorhaben, die Ukraine in drei Tagen einzunehmen. „Auch wenn es ihnen nicht
       gelang, sind die Wunden ungemein tief.“
       
       Diese Wunden erscheinen beim Gastspiel am Berliner Ensemble anlässlich des
       dritten Jahrestags des Vollangriffs in Form von kaleidoskopartigen Skizzen
       auf der Leinwand: Iryna Lazers mal verträumter, mal kraftvoller Gesang
       haucht der Szenerie Leben ein.
       
       Spielszenen wechseln sich ab mit irrsinnigen, aber lebensrettenden
       Sicherheitsanweisungen aus dem Kriegsalltag – zeichnerisch und
       multilingual auf die Bühne projiziert, spiegeln sie den Wahnsinn des Bösen,
       der in der Ukraine eine zerstörerische Allgegenwärtigkeit besitzt.
       
       Latente Traumaarbeit 
       
       Das Stück, für das Lazer mit Musiker Daniil Zverkhanovskyi und
       Theatermacherin Alina Danylova kooperierte, führt in einen
       Schlaf-Wach-Zustand latenter Traumaarbeit, in dem [5][belastende
       Kriegserfahrungen] zwar noch nicht überwunden, jedoch bezeugt,
       [6][künstlerisch vermittelt] und schmerzlich nachvollziehbar gemacht
       werden.
       
       Trotz des unhaltbaren Kriegszustands setzte die Sängerin Anfang 2024 der
       emotionalen Zerrissenheit zwischen den Orten ein Ende und kehrte zurück ins
       Kyjiwer Umland. Sie erzählt: „Ich habe momentan das große Verlangen, unsere
       Wohnung gemütlich herzurichten, auch wenn es unangemessen erscheint. Du
       gewöhnst dich an die ständige Gefahr – aber wenn du innehältst, trifft dich
       die Realität schmerzhaft.“
       
       Das Leben im Krieg trage oft surreale Züge: Andauernder Drohnen- oder
       Raketenbeschuss sorgten für nervtötenden Schlafentzug – und manchmal
       dröhnten auf dem Schulhof neben der Nationalhymne plötzlich auch die
       Sirenen. „Wie im Film, einfach unwirklich“, so Iryna Lazer.
       
       Nach ihrer Rückkehr zog die Familie innerhalb Hostomels um – einen
       Kilometer weiter in Richtung Butscha. „Hier hören wir den Luftalarm von
       Hostomel und Butscha gleichzeitig – mit Stereo-Effekt, der eine ertönt
       verzögert.“
       
       Dass auch Sirenen etwa vor Drohnenattacken nicht immer schützen, musste die
       Familie im März ganz unmittelbar erfahren: Ihr Haus, das unter der
       Besatzung verwüstet und beschädigt worden war und in dem nun die aus
       Cherson geflohenen Schwiegereltern wohnen, wurde vom Splitterflug einer
       unweit eingeschlagenen Drohne getroffen. Verletzt wurde niemand.
       
       Kontaminierte Wälder 
       
       Während des Gesprächs schwenkt Lazer die Kamera hinaus aus dem
       Küchenfenster: Ukrainischer Kiefernwald und ein Streifen Jungbäume
       erscheinen auf der verpixelten Bildfläche. Die Idylle trügt, so gut wie
       alle Wälder im Norden der Kyjiwer Region seien nach der
       Tschernobyl-Katastrophe künstlich „zum Schutz“ gepflanzt worden und auf die
       eine oder andere Art kontaminiert.
       
       „Entweder durch [7][Tschernobyl] oder durch die russische Invasion“, meint
       Taras Lazer, der in der Gegend – in niedergebrannten Dörfern und verminten
       Wäldern – mitgeholfen hat, Kriegsverbrechen zu dokumentieren.
       
       Vor dem Gastspiel von „Shalene/Ver-rückt“ am 24. Februar stellte sich Iryna
       Lazer die Frage, was es bedeute, das Stück [8][drei Jahre seit Beginn] der
       Vollinvasion, fast zwei Jahre seit seiner Premiere erneut zu spielen. „Das
       Stück ist ursprünglich, trotz aller Grausamkeiten, lebensbejahend. Aktuell
       hält die Realität jedoch wenig Hoffnung für die Zukunft bereit.“
       
       Im musikalischen Hauptmotiv bittet das Mädchen vergeblich um Hilfe gegen
       die fremde Gewalt – ein Bild, in dem Lazer heute die Ukraine erkennt. „Am
       Ende sind wir allein mit unserer Verzweiflung und Wut über diesen Wahnsinn,
       der uns angreift.“
       
       Aktivierendes Potenzial von Musik 
       
       Die Komponistin, Sängerin und Regisseurin, deren Musik weiterhin im Kyjiwer
       „Theater am linken Dnipro-Ufer“ im Stück „Dim“ (Haus) zu hören ist, würde
       wohl nicht auftreten, glaubte sie nicht auch an das aktivierende Potenzial
       ihrer Musik. „Es geht um Menschen, um ihre Reaktionen“, sagt sie. „Darum,
       wie wir versuchen, etwas zu überwinden, das man sich kaum vorstellen kann.“
       
       Wenn nur ein Mensch durch das Stück oder ihre Musik seine Meinung ändere,
       habe sich die Mühe gelohnt. „Es gibt ja Unterstützung, aber manchmal
       scheint es, als vertiefe sich die Einsamkeit unseres Kampfes.“
       
       Dieser Kampf ums Leben beginnt in der Kriegsrealität schon mit dem
       Aufstehen: Manchmal müsse sie sich selbst davon überzeugen, dass es gut
       sei, morgens keinen Luftalarm zu hören. Die widersprüchlichen Reaktionen,
       das scheinbar unpassende Lachen ihrer Theatercharaktere Anja und Ninka
       könne sie nun – nach über drei Jahren des Wahnsinns – besser verstehen und
       wiedergeben. „Es ist, als hätten sich die Konzepte ‚gut‘ und ‚schlecht‘
       verkehrt: Alles ist durcheinander – und das Trauma dauert an.“
       
       24 Jun 2025
       
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