# taz.de -- Roman über Ukraine-Krieg: Was nützt deine Intelligenz an der Front?
> Der Schriftsteller Szczepan Twardoch schickt einen Stadtmenschen in den
> Krieg. Der Roman „Die Nulllinie“ beschreibt die Verrohung im Kampf.
IMG Bild: Nur Glück kann dich schützen: Eine ukrainische Haubitze feuert auf russische Stellungen, Juni 2025
Es ist eine hässliche Welt nahe der Nulllinie. Die Nulllinie, das ist die
hypothetische Grenzziehung zwischen den russischen und den ukrainischen
Truppen, und der Soldat mit dem Pseudonym Koń, der auf der Seite Letzterer
kämpft, befindet sich mittendrin in der archaischen Sphäre an der Front.
Die Verletzten und Toten werden hier zu Zahlen – „Trjochsoty, also
Dreihunderter, bedeutet verwundet, Dwuchsoty, Zweihunderter – tot“ –, die
Soldaten heißen Ratte, Schakal oder Leopard, die Sprache ist dreckig, die
Feinde heißen „Russacken“, „Pädorussen“ oder „gefickte Moskowiter“.
Szczepan Twardochs Roman „Die Nulllinie“ spielt in der kriegerischen
Gegenwart in der Region Cherson, „Roman aus dem Krieg“ lautet der
Untertitel des Buchs. Sein Protagonist Koń (Ukrainisch Кінь = Pferd) ist
ein Akademiker, er stammt aus einer polnisch-ukrainischen Familie und hat
in Warschau gelebt, ehe er zunächst als Freiwilliger in den Krieg zieht.
An der Front trifft er Menschen, auf die er anfangs herabschaut: Ratte, der
keine Ausbildung hat, Leopard, ein Alkoholiker aus der Nähe von Charkiw.
Doch Koń lernt schnell, dass im Krieg all das, was vorher war, nicht mehr
gilt, dass jeder gleich wenig zählt im Angesicht des Artilleriefeuers und
der Bombeneinschläge.
## Krieg ist ein häufiges Motiv bei Szczepan Twardoch
Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch hat sich in seinen Romanen
bereits ausführlich mit den Kriegen und den polnischen Traumata des 20.
Jahrhunderts befasst, er hat über den Überfall Hitler-Deutschlands auf
Polen („Morphin“, 2014), die Zeit in Warschau unmittelbar zuvor [1][(„Der
Boxer“, 2018)] und über den Umbruch nach Ende des Ersten Weltkriegs
(„Demut“, 2020) geschrieben.
Auf dem deutschen Markt ist der 45-Jährige sehr erfolgreich, er wurde
vielfach ausgezeichnet, zuletzt im April mit dem Usedomer Literaturpreis
2025. Für seinen neuen Roman ist er mehrfach an die Front gereist und hat
dort recherchiert, viel Zeit in Schützengräben verbracht, wie er sagt.
Einerseits bildet „Die Nulllinie“ ab, wie das Dasein – von Leben mag man
kaum sprechen – im Krieg ist. Der Autor lässt den gebildeten Koń auf
Menschen aus der sogenannten Unterschicht treffen; hier an der Front kehrt
sich das Verhältnis um, hier sind sie die Klugen, die ihm das System Krieg
erklären. Es ist eine regressive Männerwelt, die Twardoch abbildet, an
einer Stelle heißt es über die Soldaten: „[…] am Ende suchten sie dort [im
Krieg] wohl auch nach ihrer Männlichkeit, die im beschaulichen Leben ihrer
Heimatländer nicht hatte gedeihen können.“
## Mit machistischer Sprache
Der Roman ist recht voll von Ausdrücken wie „Fotze“ und „ficken“, die
Sprache ist machistisch. Eine gewisse Faszination für das Derbe scheint
auch beim Autor mitzuschwingen, reproduziert er den Soldatenslang,
Vulgarismen und Rassismen doch mehr als dies nötig wäre. Es irritiert auch,
dass Frauen im Krieg hier kaum vorkommen, wo man weiß, wie viele
Soldatinnen es auf ukrainischer Seite gibt (auch an der Front) und welche
wichtige Rolle sie für die Infrastruktur spielen.
Andererseits kann Twardoch natürlich auch nur literarisch verarbeiten, was
er erlebt hat. Sein Protagonist Koń muss sich in dieser Welt zurechtfinden,
die sein Wertesystem umkehrt, ob er will oder nicht: „Du trugst deinen
Rationalismus vor dir her wie Schild und Schwert, das Banner deiner
scharfsinnigen Intelligenz, aber was taugte das noch im Krieg, einen
Scheißdreck, wenn weder Vernunft noch Intelligenz noch Mut noch
Rechtschaffenheit noch Gemeinheit dich vor dem tödlichen Hagel der
Kassettenbomben schützen können, nur Glück allein, nichts sonst“, denkt er.
Die Du-Form zieht sich durch den Roman, der Protagonist ist im ständigen
inneren Zwiegespräch. Wie viele Themen Twardoch fast schon beiläufig
mitverhandelt, ist bemerkenswert. Er erzählt von den oftmals komplizierten
familiär-ethnischen Hintergründen vieler Osteuropäer:innen anhand der
Familie von Koń.
Er beschreibt, wie ukrainische Soldaten (hier wirklich meist männlich) mit
rechtsextremer Symbolik operieren, nur um den Feind zu „provozieren“ – und
sich so selbst schaden. Er findet treffende Worte über die völlig
gegensätzliche Entwicklung der russischen und ukrainischen Gesellschaft
nach 1991 („Ohne die unrussischste Eigenschaft der Freiwilligen vom Maidan,
nämlich ihre anarchische Freiheitsliebe, gäbe es heute keine Ukraine“).
## Der Krieg als Fundraiser
Er nennt den Krieg einen „Fundraising-Krieg“, spielt zum Beispiel auf die
vielen Drohnen an, die spendenfinanziert sind. Er referiert auf einen
„Ur-Kriegstext“, Homers „Ilias“. Und landet schließlich mitten im Jetzt, wo
über Gebietsabtritte verhandelt wird.
In Teilen scheint der Ton etwas zu effekthascherisch, die Verhärtung an der
Front wird durch die verrohte Sprache verstärkt, da hätte es vielleicht
literarische Mittel gegeben, Kontraste zu setzen; eine andere Stimme, einen
anderen Ton. Über das Fortexistieren im Krieg erzählt „Die Nulllinie“
zweifelsohne sehr viel.
Twardoch bringt einem das Auseinanderstreben zweier unvereinbarer Welten
nahe, der zivilen und der militärischen, indem er schildert, wie ein
gebildeter Stadtmensch in den Krieg zieht und zu Koń, dem Kämpfer wird. Und
wie furchtbar dort, nahe der Nulllinie, alles ist. Furchtbar banal und
furchtbar brutal.
5 Jul 2025
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## AUTOREN
DIR Jens Uthoff
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