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       # taz.de -- Proteste in Serbien: Jetzt bloß nicht die alten Fehler machen!
       
       > Die Protestierenden in Serbien fordern Rechtsstaatlichkeit und Neuwahlen
       > des Parlaments. Nun aber müssen sie aufpassen, nicht in die
       > nationalistische Falle zu tappen.
       
   IMG Bild: Die Proteste in Serbien werden schroffer
       
       Die [1][neue Protestgeneration in Serbien] steht vor einer großen Frage,
       die sie bislang verdrängt hat: Wie hältst du es mit dem Nationalismus? Am
       vergangenen Samstag lief ein [2][Ultimatum] der Bewegung an Präsident
       Aleksandar Vučić ab, Neuwahlen auszurufen. Seither werden im ganzen Land
       Straßenblockaden errichtet, der Verkehr ist lahmgelegt.
       
       Mit Besetzungen, kreativen Aktionen und basisdemokratischen Plena waren die
       Studierenden gestartet, um gegen Präsident Vučić zu demonstrieren, der
       Serbien in einen klientelistischen Einparteienstaat verwandelt und das
       Parlament entmachtet hat. Er kontrolliert Medien und Justiz. Die Korruption
       seines Systems fordert Menschenleben – etwa beim Einsturz des frisch
       renovierten Bahnhofsvordachs in [3][Novi Sad mit 16 Toten].
       
       Im Zentrum des Protests standen Rechtsstaat und Demokratie, und das traf
       auf [4][breite Unterstützung in der Bevölkerung]. Auch, weil schwierige
       politische Fragen ausgeklammert wurden. Nun versammelten sich letztes
       Wochenende rund 140.000 Menschen ausgerechnet am 28. Juni, dem Vidovdan
       (Veitstag), zur Großdemonstration in Belgrad. Ein zentraler Tag serbischer
       Geschichtsmythologie, getragen von Erinnerungen an die Schlacht auf dem
       Amselfeld 1389 – eine Erzählung, die wie keine zweite für [5][großserbische
       Ideologien] instrumentalisiert wurde. Vučić wirft den Studierenden vor, vom
       Ausland gesteuerte „Terroristen“ zu sein. Ihre Antwort am 28. Juni: ein
       überschießendes Bekenntnis zu Volk und Vaterland auf der Bühne. Um den
       Präsidenten auf seinem eigenen Spielfeld zu schlagen, riskiert die
       Bewegung, selbst zu dem zu werden, was man bekämpft.
       
       Die erste Rede hielt ein serbischer Student aus dem Kosovo. Mit
       traditioneller Šajkača – einer serbischen Kopfbedeckung – zitiert er in
       seiner Rede den Hitler-Verehrer Bischof [6][Nikolaj Velimirović]. Bei ihm
       heißt es sinngemäß, dass Serbien jahrhundertelang seine Männer opferte, um
       Europa vor dem Osmanischen Reich und dem Islam zu retten. Ein anderer
       Redner, ein Literaturprofessor, sprach vom „serbischen Integralismus“, man
       könnte auch sagen: Großserbien. Und ein Elektrotechnikprofessor behauptete,
       aktuell fänden „genozidale Pogrome“ gegen die Serben im Kosovo statt – eine
       Aussage ohne jede Grundlage. Es ist der altbekannte nationalistische
       Irrsinn eines Landes, das seine eigenen Verbrechen nie aufgearbeitet hat,
       dessen Bildungssystem völkisch indoktriniert ist und das seine politische
       Identität aus der Mythologisierung einer Schlacht von 1389 schöpft.
       
       Zentrale Forderung der Proteste sind Neuwahlen. Anfangs wollte Vučić sie,
       jetzt nicht mehr – wohl aus Angst, trotz der üblichen Wahlbetrügereien zu
       verlieren. Die Studierenden planen eine eigene Wahlliste mit
       Professor:innen. Nach den Vidovdan-Reden ist zu befürchten, dass auch
       ultranationalistische Personen dort vertreten sein werden. Die Rednerliste
       wurde von einem Dachverband der Medienverantwortlichen der verschiedenen
       Fakultäten bestimmt – also von Studierenden selbst.
       
       Es ist nicht überraschend, dass sich eine international kaum unterstützte
       Demokratiebewegung ins Nationale zurückzieht. Doch dieser Nationalismus
       spaltet tief. Viele Demonstrant:innen wollen keine Erlösungsfantasien
       im Namen des Serbentums – sie kämpfen für Demokratie und gegen Korruption,
       nicht für Nationalmythen. Und warum sollten sich Zivilgesellschaft und
       Menschen aus Nachbarländern weiter mit einer Bewegung solidarisieren, deren
       Rhetorik sich kaum von jener der Kriegstreiber aus den 90ern unterscheidet?
       
       Dabei hatte der Protest ursprünglich integrative Ansätze: Studierende aus
       Novi Pazar – mehrheitlich muslimisch – besetzten ihre Universität und
       standen Seite an Seite mit ihren Kommiliton:innen. Bosniakische und
       serbische Flaggen wurden gemeinsam getragen. Die Diversität in der
       Kommunikation ganz nach vorne gestellt.
       
       Nun ist eine neue Phase des Protests angebrochen. Am Vidovdan gaben die
       Studierenden nach Ablauf des Ultimatums symbolisch „grünes Licht“ für
       zivilen Ungehorsam. Mancherorts gehen Fußgänger einfach sehr langsam und
       immer wieder über Zebrastreifen. Doch es geht auch etwas rauer zu, manche
       sprechen deswegen von einer Radikalisierung der Bewegung – die jedoch fällt
       bisher relativ mild aus: Die Barrikaden bestehen oft aus Müllcontainern.
       Wenn die Polizei kommt, lässt man sie räumen und blockiert eine andere
       Ecke, um die Polizei in Bewegung zu halten.
       
       Die Staatsgewalt reagiert mit Repression. Die Protestierenden in Belgrad
       stehen nach wie vor auf der Straße und demonstrieren für eine demokratische
       Erneuerung. Doch wer dabei auf Nationalismus setzt, bereitet den Boden für
       den nächsten autoritären Kleptokraten. Vučić ist nicht vom Himmel gefallen.
       Wer glaubt, nach ihm könne es nur besser werden, sollte sich erinnern, wer
       der Informationsminister der gestürzten Regierung von Slobodan Milošević
       war: Aleksandar Vučić.
       
       4 Jul 2025
       
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