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       # taz.de -- Die Verschrottisierung von Liegestühlen: Die Sache hat jetzt einen Haken
       
       > Einst waren Liegestühle einfach aus Holz. Warum werden heutzutage dann
       > hässliche Plastikleisten drangeschraubt? Und was sagt der TÜV dazu?
       
   IMG Bild: Klappt doch! Der schwedische Komiker Carl Gustaf Lindstedt versuchte in den 1950er Jahren den ganz entspannten Liegestuhl
       
       Es gab sie mal, die einfachen, guten Liegestühle aus Holz mit einer
       Liegefläche aus dicht gewebtem Stoff. In der Nichtliegestuhlzeit lehnten
       sie flach zusammengeklappt an der Wand und störten nicht weiter. Kam der
       Sommer, ließ sich so ein Stuhl einfach aufstellen: Man überlegte kurz,
       welches die Hinterbeine sind und welches die Vorderbeine, sortierte die
       frei schwingenden Teile und klappte sie dann so zusammen, dass eine an der
       Rückenlehne befestigte Querleiste in die Kerben einrastete, die in die
       hinteren Beine der Liegestühle gefräst waren. Drei Stufen gab es – eine zum
       halbwegs aufrechten Sitzen, [1][eine zum entspannten Liegen] und eine
       dazwischen.
       
       Es war ein simples, aber perfektes Produkt, nur aus Holz und Stoff. Nichts
       weiter. Der alte Designgrundsatz Form follows Function in seiner schönsten
       Form.
       
       Es gibt diese Stühle noch immer, aber sie werden seltener. Denn die meisten
       derartigen Liegestühle sind nicht länger nur aus Holz und Stoff. Sie sind
       jetzt mit zwei Hakenelementen aus Plastik ausgestattet, und die sind genau
       auf den in die Hinterbeine gefrästen Kerben angebracht. Die
       Plastikhakenleisten vergrößern die Kerben und bieten – oder versprechen das
       zumindest – noch mehr Halt.
       
       Nun könnte man sagen: Ja, und? Oder: Ist doch super, noch mehr Sicherheit
       beim gepflegten Faulenzen.
       
       ## Ein Unding in mehrerlei Hinsicht
       
       Aber, nein: Die aufgeschraubten Plastikleisten sind in mehrerlei Hinsicht
       ein Unding. Erstens, weil aus Plastik immer irgendwann auch Plastikmüll
       wird. Zweitens werden die schlichten, schönen Stühle dadurch hässlich.
       Drittens folgt ihre Markteinführung einer kapitalistischen Logik, die ein
       Mehr, ein „Noch besser“, ein „Jetzt neu mit …“ verspricht, selbst, wenn die
       Aufwertung gar keine ist, denn: Viertens kann natürlich auch ein Liegestuhl
       mit Plastikhaken zusammenbrechen. Jeder Stuhl kann das. Die ins Holz
       gefrästen Kerben haben als Zusammenbrechschutz völlig ausgereicht.
       
       Und ist denn wirklich schon mal jemand mit dem Stuhl zusammengeklappt, weil
       die Querstrebe an der Rückenlehne nicht in die eingefrästen Haken
       eingerastet war? Abgesehen davon: Wäre das so schlimm? Ein Liegestuhl steht
       ja zumeist auf weichem Grund. Sand. Gras. Vielleicht Kies, aber selbst das
       wäre zu verschmerzen.
       
       Eine Umfrage im erweiterten Freundes- und Bekanntenkreis ergab keinen Trend
       zum hakenlosen Zusammenbrechen. Was nur einige der Befragten anmerkten: Sie
       hätten sich die Finger beim Auf- und Abbau eingeklemmt. Tja, das tut weh
       und kann leicht passieren, weil die Beine und die Querstrebe frei
       schwingen. Aber gerade dagegen helfen diese Plastikhaken ja gar nicht.
       
       Warum gibt es sie also? Bei der Recherche nach Herstellern, die es wissen
       könnten, fällt auf: Klappliegestühle werden oft als Werbemittel
       hergestellt. Eine Firma möchte auf sich aufmerksam machen und ordert bei
       einem Liegestuhlhersteller massenhaft Stühle, deren Stoffsitzflächen mit
       dem Firmenlogo oder einem Werbeslogan bedruckt sind und dann in Beachclubs,
       an Stadtstränden – temporär mit mehreren Fuhren Sand, palmenartigen
       Gewächsen, Trinkbuden und bunten Lämpchen ausgestatteten Freizeitbereichen
       dort, wo sonst kein Strand ist – oder auch mal auf Stadtplätzen mit tristem
       Betonpflaster rumstehen, um [2][sommerliche Leichtigkeit] zu versprühen.
       Ohne es zu diesem Zeitpunkt der Recherche schon zu wissen: In der Tatsache,
       dass die Liegestühle oft als Werbemittel fabriziert werden, liegt schon ein
       Teil der Antwort.
       
       ## Ruckartiges Hinsetzen, ungleichmäßige Belastung
       
       Zunächst aber ein Anruf beim TÜV, denn da ruft man ja an, wenn es um
       Sicherheit und Technik geht.
       
       Dirk Moser-Delarami, Pressesprecher des TÜV Süd in München, gibt
       bereitwillig Auskunft: „Unserer Ansicht nach“ hätten die Plastikhaken „vor
       allem eine ergänzende Sicherungsfunktion“, indem sie die Rückenlehne
       zusätzlich abfingen. Die Kerben allein „reichen theoretisch aus, um die
       Rückenlehne in Position zu halten“, doch könne die Lehne „bei unsachgemäßem
       Gebrauch“ – ruckartiges Hinsetzen, ungleichmäßige Belastung – „evtl. aus
       den Kerben rutschen. Die Haken verhindern dieses unbeabsichtigte
       Herausspringen“, schreibt Moser-Delarami.
       
       Denkbar sei auch, dass Hersteller, etwa bei gewerblicher Nutzung,
       Haftungsrisiken vorbeugen und „den Anforderungen von Sicherheitsprüfungen
       gerecht“ werden wollten. Moser-Delarami schreibt auch, dass Liegestühle
       ohne Plastikhaken nicht zwangsläufig unsicher seien: „[3][Wenn das Holz in
       einwandfreiem Zustand ist und die Kerben sauber gefräst sind],
       funktionieren auch klassische Modelle ohne zusätzliche Haken zuverlässig.“
       
       Kein TÜV-Statement ohne DIN, und so verweist der TÜV-Süd-Sprecher auf die
       relevanten Prüfgrundlagen, dargelegt in DIN EN 581-1
       „Sicherheitsanforderungen für alle Arten von Outdoor-Möbeln“ und in DIN EN
       581-2 „für Sitzmöbel im Außenbereich (inkl. Stabilitäts- und
       Festigkeitsprüfung)“. Damit wird geprüft, ob ein Liegestuhl kippsicher,
       belastbar und mechanisch sicher konstruiert ist, „z. B. ob es beim
       Zurücklehnen zu einem plötzlichen Zusammenklappen kommen kann“. Die
       Plastikhaken könnten helfen, solche Sicherheitsanforderungen besser zu
       erfüllen. Gefordert werden sie in den Normen aber nicht.
       
       Beim TÜV Rheinland sind sie liegestuhlmäßig schon etwas weiter. Laut
       Pressesprecher Fabian Dahlem fand „eine normative Vorgabe“ bislang vor
       allem in Frankreich Anwendung, weil dort durch fehlerhaftes Aufstellen der
       Stühle gehäuft „Scher- und Quetschstellen“ – Finger ab oder Finger autsch –
       aufgetreten seien. Derzeit werde deshalb Norm 581-2 in die europäische
       Normgebung aufgenommen, um die Zahl solcher Unfälle zu reduzieren.
       
       Also, es tut sich was auf dem Markt der Liegestühle. Vorgegeben waren die
       Haken bislang nicht, aber das wird wohl so kommen.
       
       ## Zum Lifestyle-Produkt aufgemöbelt und dann abgespeckt
       
       Warum es die Haken trotzdem schon breitflächig gibt, verrät Wiebke
       Schneider, Junior Content Managerin vom Werbeartikelshop brandible in
       Dresden, einem der größten Anbieter von Liegestühlen, die als Werbemittel
       eingesetzt werden, per E-Mail: „Mit der Zeit wurde der Liegestuhl – durch
       Werbeartikel/Werbetechnik Industrie – zu einem Lifestyle-Produkt. Um Kosten
       und Gewicht zu sparen, wurde mit der Zeit der Querschnitt des Holzes
       verändert und ‚abgespeckt‘.“
       
       Das heißt also: Mal wieder ist der Kapitalismus Schuld. Liegestühle sind
       ihrem eigentlichen Zweck enthoben und dienen als Werbemittel. Damit sie
       dafür möglichst billig hergestellt werden können, spart man am Werkstoff
       Holz und sichert sich gegen plötzliches Zusammenbrechen durch
       aufgeschraubte Plastikhakenleisten ab. Die sehen doof aus und degradieren
       den Stuhl zum Wegwerfartikel, machen ihn aber eben billiger als früher.
       
       Man kann diese Verschrottisierung der Welt nur im Liegen ertragen – auf
       einem stabilen Stuhl ganz aus Holz.
       
       29 Jun 2025
       
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