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       # taz.de -- Radikalisierung von Jungnazis: Stille in Altdöbern
       
       > In Altdöbern und Wismar werden drei Teenager festgenommen. Sie sollen
       > Anführer einer Rechtsterrorgruppe sein. Wie konnten sie sich so
       > radikalisieren?
       
   IMG Bild: Alles strahlt hier Bürgerlichkeit aus: Das Haus von Lenny M., das die Polizei im Mai durchsuchte
       
       Altdöbern taz | Lennys Kinderzimmer in dem neugebauten Einfamilienhaus,
       ganz am Rande Altdöberns, steht jetzt leer. Alles strahlt hier
       Bürgerlichkeit aus: Backsteinhaus, neben der Tür eine weiße Bank mit
       Blumentöpfen, ein akkurat herausgeputzter Garten, weißes Familienauto
       hinter weißem Gartenzaun. Einzig: Ein Schild warnt vor einer
       Überwachungskamera. Klingelt man, öffnet der Vater, Kurzhaarscheitel,
       Headset auf dem Kopf. Er könne nichts zu den Vorwürfen sagen, [1][wegen
       derer sein 15-jähriger Sohn jetzt im Gefängnis sitzt], sagt er. Und er
       müsse jetzt arbeiten. Dann verschwindet er sofort wieder im Haus.
       
       Und es herrscht wieder Stille in Altdöbern.
       
       Auch der Bürgermeister des 2.500-Einwohner Ortes im Süden Brandenburgs,
       Peter Winzer, ein 73-jähriger SPD-Mann, seit 13 Jahren im Amt, sagt, er
       könne zu den Festnahmen wenig sagen. Er kenne die Familie von Lenny M.
       nicht genauer. Und er wolle auch keinen Rufmord betreiben, solange niemand
       verurteilt sei. Der Brandanschlag auf das örtliche Kulturhaus, den
       Kultberg, aber sei eine „Katastrophe“, sagt Winzer. Für lokale Vereine gebe
       es nun keinen Treffpunkt mehr. Der Chef des Kegelvereins, in dem die
       Familie von Lenny M. aktiv ist, will nicht sprechen. „Und ich hoffe, dass
       auch niemand sonst vom Verein was dazu sagt“, sagt er. Der Präsident des
       örtlichen Fußballvereins will auch nicht sprechen. Pfarrerin Astrid
       Schlüter sagt, sie kenne die Familien auch nicht. Aber auch sie nennt die
       Sache mit dem Brandanschlag „eine Katastrophe“. Eine, die viele im Ort
       erschreckt habe.
       
       Es war am 23. Oktober vergangenen Jahres, [2][als der Kultberg in Altdöbern
       niederbrannte]. In dem Kulturhaus wurde schon vor hundert Jahren gefeiert,
       zu DDR-Zeiten unter dem Namen „Schützenhaus“. Der Sachschaden: 500.000
       Euro. [3][Dann folgte am 21. Mai die Festnahme von Lenny M.] – im Auftrag
       der höchsten Ermittlungsbehörde, der Bundesanwaltschaft. Der Vorwurf:
       Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung, der „Letzten
       Verteidigungswelle“. Eine Gruppe, auf welche die taz [4][schon Wochen zuvor
       hinwies]. Und bei der Lenny M. einer der Anführer gewesen sein soll. Mit 15
       Jahren.
       
       Mit ihm festgenommen wurden sieben weitere Rechtsextreme aus Brandenburg,
       Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen und Hessen – der jüngste 14
       Jahre alt, der älteste 21. Ein zweiter Festgenommener, Jerome M., auch 15
       Jahre alt, kommt aus einem Vorort von Altdöbern. Bei den Razzien fanden
       Polizisten Softairwaffen, Schlagringe und einen Gegenstand, zu dem bis
       heute eine Sprengstoffuntersuchung läuft.
       
       Erst vor einem guten Jahr hatte sich die „Letzte Verteidigungswelle“ auf
       Tiktok und Instagram gegründet, zunächst mit einer Gruppe für
       Mecklenburg-Vorpommern, dann mit Ablegern in anderen Bundesländern. Sie war
       eine von vielen jungen rechtsextremen Gruppen bundesweit, [5][die ab dem
       Frühjahr 2024 plötzlich auf Social-Media-Plattformen auftauchten]. Auf
       ihren Fotos posieren Teenager kahlgeschoren in Bomberjacken, mit
       Springerstiefeln, weißen Schnürsenkeln und Hitlergrüßen – [6][wie in den
       Baseballschlägerjahren der Neunziger]. In Kommentaren wird über „Zecken“,
       „respektlose Migranten“ oder CSD hergezogen, immer wieder mit Gewalt
       gedroht.
       
       Anders als andere Gruppen beließ es die „Letzte Verteidigungswelle“ nicht
       bei Gerede. Erst brannte in Altdöbern der Kultberg nieder. [7][Ein Angriff
       auf eine Asylunterkunft im nahegelegenen Senftenberg soll kurz
       bevorgestanden haben]. Zwei Kugelbomben hatte sich die Gruppe dafür in
       Tschechien besorgt. Im Thüringer Schmölln war ein solcher Angriff schon
       erfolgt: Hier filmten sich zwei Gruppenmitglieder dabei, wie sie eine
       Feuerwerksbatterie ins Innere einer Unterkunft schossen, offenbar um einen
       Brand zu legen, der letztlich nicht ausbrach. Zuvor wurden rechtsextreme
       Parolen auf die Wände geschmiert.
       
       Die Festnahmen sind eine Zäsur: Eine Rechtsterrorgruppe im Teenageralter,
       das gab es bei der Bundesanwaltschaft bisher nicht. Nun bleiben Fragen. Wie
       kann es sein, dass sich Jugendliche derart radikalisieren – innerhalb so
       kurzer Zeit? Und wie wird darauf reagiert?
       
       In Altdöbern steht auch acht Monate nach dem Brand noch die Ruine des
       abgebrannten Kultbergs. Bauzäune umstellen die Reste des Gebäudes, der
       frühere Saal klafft offen, nur noch die Außenmauern stehen,
       schwarzverkohlte Balken ragen in den Himmel. Das Betreiberpaar – ein
       gebürtiger Altdöberner und eine Thüringerin – zog vor fünf Jahren von
       Berlin aus in den Ort und pachtete das Gebäude von der Gemeinde. Eigentlich
       hatten sie nur ein Nebengebäude im Blick, einen früheren Jugendclub, dann
       bat sie Bürgermeister Winzer, den ganzen Komplex zu betreiben. Jeden Tag
       hatten sie Zeit und Geld in den Kultberg investiert, neue Bar, neue Küche,
       neue Technik. Am Ende gab es Rockkonzerte, Familienfeiern, einen
       Biergarten, Burger und Flammkuchen.
       
       Auch das Paar will zum Brandanschlag nicht viel sagen. Die Tat, das Motiv
       und dass all das aus der Nachbarschaft heraus passiert sei, bleibe
       „unbegreiflich“, erklären beide nur. Politisch hätten sie sich mit dem
       Kultberg gar nicht positioniert, seien stets für alle offen gewesen. Seit
       dem Brand ist die Lebensgrundlage der Familie zerstört – und das
       Sicherheitsgefühl. Direkt neben dem abgebrannten Kulturhaus steht das
       Wohnhaus, in dem sie auch in der Nacht vom 23. Oktober mit ihrer kleinen
       Tochter schliefen. Es fehlten nur wenige Minuten, dann hätte das Feuer auch
       sie erreicht. Der Vorwurf der Bundesanwaltschaft lautet deshalb auch auf
       versuchten Mord.
       
       Die Polizei sprach nach dem Feuer zunächst von einem technischen Defekt.
       Den Betreibern war dagegen noch in der Nacht klar, dass das nicht sein
       kann: Die ganze Elektronik sei gerade erst erneuert worden. Dann tauchte in
       einer Chatgruppe der „Letzten Verteidigungswelle“ ein Video auf: Ein
       Vermummter in einem Camouflage-Anzug steht vor einem Fenster an der
       Rückseite des Kultbergs, in der Hand eine Flasche. Es lodern Flammen, erst
       am Fensterrahmen, dann im Inneren des Gebäudes. „1.24 hab ichs angezündet“,
       schrieb ein Gruppenmitglied laut eines Stern-Berichts. Als die
       Feuerwehrsirenen ertönten, sei er schon wieder „heme“ gewesen. Den Laden
       würden „Zecken“ betreiben, ergänzte ein anderes Mitglied. Die Polizei weiß
       davon nur, weil [8][eine Stern-Reporterin undercover in der Gruppe
       eingeschleust war] und die Inhalte weitergab.
       
       Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt, dass Lenny M. der
       Nachrichtenschreiber war – und der Brandstifter. Und dass auch Jerome M.
       vor Ort war. Sie werteten ihre Handys aus, die Chats und Aufnahmen von
       Überwachungskameras. Der Kultberg ist nur wenige Hundert Meter von Lenny
       M.s Wohnhaus entfernt. In einem weiteren Video vor der Tat soll er andere
       Gruppenmitglieder zu ähnlichen Taten aufgerufen haben.
       
       Vor Ort heißt es, Lenny sei völlig unauffällig gewesen, kaum zu sehen. Er
       ging in einer Nachbarstadt ins Gymnasium. Noch vor wenigen Jahren, zu
       Coronazeiten, beteiligte sich der damals 10-Jährige an einem bundesweiten
       Geschichtsprojekt zur Pandemie, sandte dafür eine Collage mit Fotos
       abgesperrter Spielplätze und leerer Straßen in Altdöbern ein.
       
       Wer dieser Tage durch die Stadt läuft, begegnet auch da wenigen Menschen.
       Viele ziehen sich in ihre Gärten zurück. Vor vielen Jahren gab es mal einen
       Jugendtreff, den Club am Weinberg, in dem sich alle getroffen hätten,
       berichten Anwohnende. Da hätte man gemerkt, wenn einer abdriftet. So ein
       Ort fehlt heute, auch für Lenny M. Stattdessen tauchen online unter seinem
       Namen ab Mitte 2023 Social-Media-Profile mit Reichsadlerflagge oder einem
       Wehrmachtpanzer auf, ein Profilname lautet „German Patriot“. Offenbar zog
       sich der Teenager von seinem Kinderzimmer aus in die Onlineszene der
       Jungnazi-Gruppen zurück – bis er dort selbst zum Anführer wurde.
       
       Auch die Eltern von Lenny M. gelten im Ort als unauffällig, als „ganz
       normale Leute“. Die Mutter soll in der Verwaltung arbeiten, der Vater beim
       Zoll. Und die Familie soll mit ihrem Sohn auch den Kultberg besucht haben,
       zu Konzerten oder zum Essen. Dann aber schrieb der Vater plötzlich in einer
       Onlinebewertung, der Laden sei „chaotisch, unaufgeräumt und ungepflegt“.
       
       Eine rechtsextreme Szene sei in Altdöbern nicht präsent, anders als
       anderswo in der Region, wird vor Ort vielfach betont. „Sicher gibt es
       Rechtsextreme, aber die haben sich hier nicht geoutet“, sagt Bürgermeister
       Peter Winzer. „Und dass die gewaltbereit sind, war überhaupt nicht klar.“
       Tatsächlich liegen rechtsextreme Aufmärsche im Ort lange zurück, im
       Gemeindeparlament ist die AfD nicht vertreten. Pfarrerin Astrid Schlüter
       berichtet, es habe ein paar Aufkleber an der Friedhofsmauer gegeben, das
       war’s. Auch am Kultberg klebten schon rechtsextreme Sticker. Bei der
       jüngsten Bundestagswahl aber lag die AfD in Altdöbern bei 40 Prozent. Und
       in der Coronazeit seien einige im Ort nach rechts gerutscht, hätten auf die
       Ampel geschimpft, auf die Politik an sich, heißt es von Anwohnenden.
       
       Auf das Gymnasium von Lenny M. ging auch Jerome M., der zweite
       Festgenommene aus der Gemeinde. Die Schule ist demokratisch engagiert:
       Gerade erst wurde dort der Anne-Frank-Gedenktag begangen und eine
       Demokratieausstellung eröffnet. Ältere Schüler*innen veröffentlichten im
       Mai ein Buch mit Plädoyers für die Demokratie, berichteten darin, wie sie
       von „Faschos“ verfolgt wurden, wie die AfD auf „Hass und Spaltung“ setze,
       wie online ein Like bei einem Video reiche, um in die rechte Szene zu
       geraten. Aber auch die Schule will sich nicht zu den Festnahmen äußern.
       Eine taz-Anfrage leitet sie an das Brandenburger Bildungsministerium
       weiter, das kundtut, dass man zu den festgenommenen Schülern nichts sagen
       könne, aus Gründen des Persönlichkeitsrechts. Die Schulleitung habe auf die
       Festnahmen aber „schnell reagiert“ und „die gesamte Schulgemeinschaft
       mitgenommen“.
       
       Man hört am Gymnasium aber auch, dass gar nicht alle etwas von den
       Festnahmen mitbekommen hätten. Und dass sich bereits vor einem guten Jahr
       etwas verändert habe: Jüngere Schüler*innen seien plötzlich mit
       rassistischen Sprüchen aufgefallen, auf den Toiletten wurden Hakenkreuze
       geschmiert, bei einer Juniorwahl habe die Neonazi-Partei Der III. Weg vorne
       gelegen. Die Schule versuche das aufzuarbeiten, auch deshalb seien so
       offensiv Demokratieprojekte initiiert worden. Und diese Reaktion, so heißt
       es, unterscheide dieses Gymnasium durchaus von anderen Schulen.
       
       [9][Bereits vor zwei Jahren veröffentlichten Lehrer*innen einer Schule
       im nahegelegenen Burg einen Brandbrief], dass sich Rechtsextremismus in den
       Klassenzimmern breitmache. Wer widerspreche, müsse um seine Sicherheit
       fürchten. Auch aus anderen Schulen bundesweit hört man solche Warnungen. In
       dieser Zeit entstehen online vermehrt rechtsextreme Jugendgruppen.
       
       Die „Letzte Verteidigungswelle“, die Gruppe von Lenny M., fällt zuerst in
       Wismar auf. Auch dort ließ die Bundesanwaltschaft nun zwei Jugendliche
       festnehmen, die sie ebenfalls als Anführer sieht: den 18-Jährigen Jason R.,
       der zuletzt in einem Supermarkt gearbeitet haben soll, und Benjamin H., ein
       16-jähriger Schüler aus dem nahen Neubukow. Auch ihre Radikalisierung
       verlief online, aber nicht nur. Denn Wismar hat durchaus eine präsente
       rechtsextreme Szene. Schon die NPD war hier aktiv, zuletzt Neonazigruppen
       wie die „Division Schwerin“, „Mecklenburg Verteidigen“, „Neue Stärke“ oder
       „Aryan Circle“. [10][Der als „Nazidorf“ bekannt gewordene Ort Jamel ist
       nicht weit]. Die AfD kam in Wismar zuletzt auf knapp 30 Prozent der
       Stimmen. Aber es gibt auch einen wie Bürgermeister Thomas Beyer, ein
       Sozialdemokrat, dessen Partei in der Stadt lange vorne lag und der das
       Problem offen anspricht.
       
       Es war bereits am 14. September vergangenen Jahres, als Jason R.,
       kahlgeschoren, in grüner Bomberjacke, und Benjamin H., gescheitelt,
       aufgepumpte Arme, mit 200 anderen Rechtsextremen in Wismar auf der Straße
       standen. Es wehten schwarz-weiß-rote Fahnen, Parolen wurden gegrölt. Die
       Rechtsextremen waren angerückt, um den ersten CSD in Wismar zu stören. Am
       Ende aber waren die anderen mehr: Gut 2.100 Menschen versammelten sich zum
       CSD auf dem Wismarer Marktplatz, auch Bürgermeister Beyer kam. Ein
       wahnsinniger Erfolg sei das gewesen, sagen zwei der Organisator*innen, Luis
       Dannewitz und Rachel Hanf, zwei queere Musiker*innen. Gerade angesichts der
       rechtsextremen Bedrohung.
       
       Schon Wochen vor der Parade hatte die rechtsextreme Szene online gegen den
       CSD mobilisiert. Dannewitz und Hanf bekamen Drohnachrichten: Am Demotag
       werde „abgerechnet“, Wismar werde brennen. Am Tag selbst hielt die Polizei
       die Neonazis vom CSD fern, aber es kam zu Auseinandersetzungen mit
       anreisenden Antifaschist*innen. Die Polizei leitete mehrere
       Ermittlungsverfahren ein. Eines richtete sich gegen den Neubukower Benjamin
       H.: Er hatte ein verbotenes Butterflymesser und einen Schlagring dabei.
       
       Der Auftritt von Benjamin H. und Jason R. beim CSD in Wismar war nicht ihr
       erster – und auch nicht ihr letzter. Als die beiden im Mai von der
       Bundesanwaltschaft festgenommen wurden, zeigte sich Bürgermeister Beyer in
       einem Video „ziemlich erschüttert“. Andererseits, sagte er, sei er auch
       nicht überrascht. „Denn manches war auch bereits sichtbar.“ Die
       Stadtgesellschaft müsse nun „sehr aufmerksam“ sein und extremistische
       Vorfälle der Polizei melden, appellierte Beyer.
       
       Auch für CSD-Mitorganisator*in Rachel Hanf war vieles sichtbar.
       Rechtsextreme seien im Stadtbild präsent, es gebe eine Vielzahl an Gruppen
       in der Region, sagt die 19-jährige Wismarerin. Lange Zeit verfolgte sie
       auch deren Onlinekanäle mit. „Die sind dort alle stark vernetzt. Und da
       wird unverhohlen kommuniziert. Man konnte die Radikalisierung live
       miterleben.“
       
       Tatsächlich waren schon im Mai 2023 Jugendliche durch Wismar gezogen,
       warfen mit Flaschen, beschädigten die Ukrainefahne am Rathaus.
       Bürgermeister Beyer verurteilte in einem Video die Randale, appellierte an
       die Wismarer*innen, die Polizei zu rufen, wenn sie so etwas sehen.
       Anwohnende berichteten aber auch danach von nächtlichen „Sieg Heil“-Rufen.
       In der Stadt tauchten Aufkleber wie „Deutsche Jugend voran“ oder „Raus mit
       die Viecher“ auf. Die rechtsextremen Jugendlichen trafen sich im
       Lindengarten, einem Park unweit des Bahnhofs. Die Stadt beteuert,
       Sicherheitsdienste dorthin geschickt und den Fachdienst Jugend
       eingeschaltet zu haben. Aber die Rechtsextremen machten weiter. 99 rechte
       Straftaten zählte die Polizei 2024 in Wismar – 15 mehr als im Vorjahr. In
       diesem Jahr rechne man mit ähnlichen Zahlen, so ein Polizeisprecher.
       
       Ende 2023 tauchten dann auch online Instagram-Profile mit Fotos aus Wismar
       von Jugendlichen in Springerstiefeln mit weißen Schnürsenkeln auf,
       Pyrofackeln schwingend, unterlegt mit Musik der Böhsen Onkelz. Spätere
       Bilder zeigen Kahlgeschorene in Bomberjacken in einem Park, die Hände zum
       Hitlergruß erhoben. Dann erscheint Ende 2023 ein Gruppenname: „die Letzte
       Verteidigungswelle“. Jugendliche posieren auch dort mit Hitlergrüßen, Logos
       zieren Totenköpfe oder SS-Symbole. Man sei „die letzte Welle, die
       Deutschland befreit“, wird getönt. „Sieg oder Tod.“
       
       Zwei dieser Instagramprofile gehören Jason R. und Benjamin H. Letzterer
       verschickt intern nach taz-Informationen Nachrichten mit „Sieg Heil“-Grüßen
       oder einen Adolf Hitler, der ein Herz mit der Hand formt. Jason R. zeigt
       auf seinen Fotos auch Waffen, ein Hitlerbild oder eine Hakenkreuzfahne.
       Sein Zugang zur Szene erfolgte womöglich familiär: Online posiert auch ein
       älterer Nachnamensvetter aus Wismar in rechtsextremen Shirts, mit
       einschlägigen Tattoos. Fotos zeigen Jason R. auch mit Anführern des „Aryan
       Circle“, die deutlich älter sind.
       
       Und es bleibt auch in Wismar nicht bei Worten. Im August vergangenen Jahres
       wird beim örtlichen Büro des Internationalen Jugendgemeinschaftsdiensts die
       Schaufensterscheibe eingeworfen, in der Plakate zur Interkulturellen Woche
       hängen. Ermittler finden Fingerabdrücke am Tatort: Sie gehören zu Jason R.
       Der 18-Jährige soll im Januar auch zu einer Gruppe von Jugendlichen gehört
       haben, die in den Tierpark Wismar einbrach und mehrere Kaninchen und
       Meerschweinchen stahl, die später teils tot wiedergefunden wurden. Einer
       Ziege wurde mit einem Messer in den Bauch gerammt, das Tier in einen Bach
       geworfen, wo es starb. Später wird Jason R. von der Polizei mit einem
       verbotenen Messer und Schlagring erwischt. Im März ist der 18-Jährige auch
       bei einem Neonazi-Aufmarsch in Schwerin dabei, hier bereits tonangebend mit
       Megafon. Wenige Wochen später erfolgt dann seine Festnahme durch die
       Bundesanwaltschaft.
       
       „Die Jugendlichen konnten an die Szenestrukturen hier andocken“, sagt
       CSD-Mitorganisator*in Rachel Hanf. „Und sie haben sich immer wieder
       gegenseitig befeuert. Lange, ohne dass ihnen wirklich etwas drohte.“
       Bürgermeister Beyer sei zwar engagiert und positioniere sich offensiv gegen
       die Rechtsextremen, so Hanf. „Aber das allein reicht nicht. Da muss auch
       die Stadtgesellschaft mitziehen. Und es fehlt an Präventionsangeboten und
       Aufklärung, wie stark der Rechtsextremismus hier wirklich ist.“
       
       Die Stadt Wismar teilt mit, dass es nach den Festnahmen der
       Bundesanwaltschaft keine rechtsextremen Vorkommnisse mehr gegeben habe.
       Rachel Hanf sieht die Neonaziszene dagegen wenig beeindruckt. „Sie sind
       natürlich weiter da und auch online präsent.“ Erst zuletzt am Hafenfest
       seien auch Rechtsextreme wieder aufgetaucht.
       
       Den nächsten CSD will Rachel Hanf dieses Jahr nun nicht in Wismar, sondern
       am 13. September im benachbarten Grevesmühlen veranstalten, einer
       rechtsextremen Hochburg – es wird erneut eine Premiere. „Gerade da braucht
       es ein Bekenntnis für Vielfalt“, sagt Hanf. Aber die rechtsextreme Szene
       mobilisiert bereits wieder. Es habe nur wenige Stunden gedauert, nachdem
       ihr Plan bekannt wurde, da habe es schon Onlinekommentare gegen den CSD
       gegeben, erzählt Hanf. „Aber wir ziehen das durch.“
       
       In Altdöbern blieb die Gemeindespitze still nach dem Brand im Kultberg –
       und auch nach den Festnahmen der Bundesanwaltschaft. Es sind die Betreiber
       schließlich selbst, die zu einer „Andacht“ einladen, um an das
       niedergebrannte Kulturhaus zu erinnern, das im Ort eine jahrzehntelange
       Tradition hatte. Die Gemeinde ruft schließlich zu Spenden auf – aber nicht
       für die Familie, sondern für den „möglichen Wiederaufbau“ des Hauses. Das
       Betreiberpaar startet daraufhin einen eigenen Spendenaufruf.
       
       Brandenburgs neuer Innenminister René Wilke, einst ein Linker, nun
       parteilos und erst seit drei Wochen im Amt, [11][sagte kürzlich der taz],
       es gebe zwei Wege, mit rechtsextremen Taten umzugehen: Der erste sei, zu
       schweigen und schnell zum nächsten Thema überzugehen, um Aufmerksamkeit zu
       vermeiden. Der zweite sei: Das Problem offensiv ansprechen und die
       Bevölkerung sensibilisieren. Wilke plädiert für den zweiten Weg. In
       Altdöbern scheinen sie sich anders entschieden zu haben.
       
       Noch am Tag nach dem Brandanschlag auf den Kultberg verkündete die
       Gemeinde, dass das Haus wiederaufgebaut werden soll. In eine Taskforce für
       den Wiederaufbau wurde auch die Betreiberfamilie einbezogen. Dann aber
       erfolgt ein Kurswechsel: Im März kündigt die Gemeinde den Vertrag mit der
       Familie, wie Bürgermeister Winzer bestätigt. Es gebe ja nun keine
       Pachtsache mehr, sagt er. Am Mittwochabend beschloss die Gemeindevertretung
       den Abriss des kompletten Komplexes – ohne vorher nochmal mit den
       Betreibern gesprochen zu haben. Langfristig wolle man eine neue
       Kulturstätte aufbauen, sagt Winzer. Aber das werde angesichts leerer Kassen
       dauern.
       
       Das Betreiberpaar fühlt sich vor den Kopf gestoßen. Zumindest die Kneipe
       neben dem niedergebrannten Saal und der Biergarten wären doch noch zu
       retten gewesen, sagen sie. Und nur diese hatten sie formal gepachtet, diese
       Pachtsache sei also gar nicht zerstört, die Kündigung demnach rechtswidrig.
       Das Paar hat dieser bereits widersprochen. Kneipe und Biergarten zu
       erhalten, sei lange eine Hoffnung gewesen, auch als Basis für einen
       Neuanfang vor Ort, sagen die beiden. Dafür hätten sie sogar ein
       mehrseitiges Konzept vorgelegt. Man habe immer dafür gekämpft, das
       Kulturhaus weiterzubetreiben, auch als es schon zu Coronazeiten sehr
       schwierig war. Von der Gemeindespitze wird dagegen bereits kolportiert,
       dass die Familie Altdöbern verlassen wolle. Was diese nach eigener Auskunft
       nie gesagt hat. Es sei schade, dass inzwischen „mehr über als mit uns
       geredet wird“, sagt das Paar. Es gehe auch um ihre Rechte. Ob sie nun in
       Altdöbern bleiben könnten, hänge von den Entwicklungen der nächsten Wochen
       ab.
       
       Fragt man Bürgermeister Winzer nach politischen Konsequenzen aus dem
       Brandanschlag und Terrorvorwürfen, wird er einsilbig. „Ist doch logisch,
       dass hier alle die Tat verurteilen.“ Was solle man denn tun? „Man kann in
       die Köpfe der Leute nicht reingucken. Und wir wollen auch kein Öl ins Feuer
       gießen.“ Demokratieprojekte? Daran würden Rechtsextreme nicht teilnehmen,
       glaubt Winzer. Ein Jugendklub wieder vor Ort? Wäre sicher sinnvoll, aber
       dafür fehle schon länger das Geld. „Das ist ohnehin das Grundproblem“, sagt
       Winzer.
       
       Brandenburgs Innenminister Wilke plädierte zuletzt für „Entschiedenheit“
       von Polizei und Justiz gegen die Jungnazis, vor allem aber für mehr
       Prävention und Bildungsarbeit. Man müsse an die Schulen gehen, dort über
       Extremismus und die sozialen Medien aufklären. Es dürfe nicht hingenommen
       werden, dass die Jugendlichen sozialen Medien „schutzlos ausgeliefert“
       werden. Auch das Brandenburger Bildungsministerium sieht mehrere Faktoren
       für eine Radikalisierung, ein wesentlicher seien die sozialen Medien.
       Christian Pegel, Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, ein SPD-Mann,
       nennt die Entwicklung ebenso „erschreckend“ und betont, „wie wichtig
       frühzeitige Aufklärung und klare Grenzen sind“.
       
       Lenny M. und die anderen sieben Jungterrorverdächtigen sitzen derweil
       weiter in Haft. Was genau am Ende zu ihrer Radikalisierung führte, wird
       womöglich nie ganz aufgeklärt: Wegen des Alters der Angeklagten werden fast
       alle Prozesse nicht öffentlich stattfinden.
       
       Und so bemüht sich die Schule von Lenny M. und Jerome M. weiter, den
       Rechtsextremismus zurückzudrängen. Zwei Wochen stand die
       Demokratie-Ausstellung in den Gängen, in Kürze kommt der Verfassungsschutz
       zu einer Präventionsveranstaltung in die Aula. In Neubukow wird die Schule
       von Benjamin H. von einem Demokratieverein beraten.
       
       Und in Altdöbern geht der Alltag weiter. An der Grundschule wird bald das
       Talentefest gefeiert, in den Vororten Heimatfeste. Und am Ortsrand soll nun
       „zeitnah“, so Bürgermeister Winzer, die Brandruine des Kultbergs abgetragen
       werden.
       
       28 Jun 2025
       
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