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       # taz.de -- Aufarbeitung von NS-Verbrechen: Mit 60 Litern Benzin zur Synagoge
       
       > Zwei Historiker rekonstruieren den Brandanschlag auf die Erfurter
       > Synagoge von 1938. Sie stoßen auf neue Beteiligten. Dessen 90-jähriger
       > Sohn läuft Sturm.
       
   IMG Bild: Die Große Synagoge in Erfurt wurde 1938 zerstört: hier ein Modell von 2022 im Maßstab 1 zu 68
       
       Die Synagoge in Erfurt ist ein unscheinbarer Bau. Zwei Etagen, über dem
       Eingang ein Davidstern, schmale Fenster. Man könnte sie glatt übersehen,
       neben dem elfgeschossigen Wohnblock.
       
       Dennoch ist diese Synagoge besonders. Sie ist die einzige heute genutzte
       Synagoge in Thüringen. Und sie ist die einzige, die nach dem Holocaust auf
       dem Gebiet der DDR neu gebaut wurde. Sie steht heute da, wo bis 1938 die
       prunkvolle Große Synagoge von Erfurt stand. Die Nazis hatten sie am 9.
       November 1938 geplündert, zerstört und angezündet.
       
       Man könnte meinen, dass wenige Ereignisse so gut erforscht sind wie die
       Novemberpogrome der Nazis. Die Synagoge in Erfurt erzählt eine andere
       Geschichte.
       
       An einem kalten Tag Ende Mai steht Tom Fleischhauer vor der Erfurter
       Synagoge und bewundert ihre neueste Attraktion: ein Tastmodell der alten
       Großen Synagoge, die die Nazis zerstörten. Ein 3D-Drucker hat es gedruckt,
       68 mal kleiner als die Synagoge ursprünglich war. Feine Davidsterne
       schmücken die Modellfenster.
       
       ## Beschwerden, Drohungen, Anzeigen
       
       Tom Fleischhauer ist Geschichtslehrer in Jena. Einer, für den Geschichte
       mehr ist als ein Unterrichtsfach. In den Sommerferien bietet er für seine
       Schüler:innen einen dreitägigen Extra-Ausflug in die KZ-Gedenkstätte
       Buchenwald an, weil er findet, dass der dafür vorgesehene eine Tag nicht
       reicht.
       
       In seiner Freizeit schreibt er Aufsätze zur Regionalgeschichte. Seine
       Forschung baut er in den Unterricht ein. „Ich will, dass meine Schüler
       verstehen, dass das Dritte Reich nicht weit weg war. Es waren auch die
       Menschen aus Erfurt und Jena, die den Holocaust voran getrieben haben.“
       
       Fleischhauer hat zusammen mit der ehemaligen Leiterin des Erfurter
       Stadtarchivs, Antje Bauer, die Nacht vom 9. November 1938 in Erfurt
       rekonstruiert. Dabei haben die beiden Historiker:innen einen
       Beteiligten in den Fokus gerückt, von dem bisher niemand wusste: Georg
       Beuchel. Beuchel führte in den 1930er Jahren das größte Autohaus in
       Thüringen. In der Pogromnacht 1938 hat er Benzin besorgt und zur Synagoge
       gebracht, die in der Nacht ausgebrannt ist.
       
       Ihre Ergebnisse haben Fleischhauer und Bauer auf 50 Seiten
       niedergeschrieben und im Jahr 2021 in einer kleinen, lokalhistorischen
       Zeitschrift veröffentlicht – eine wichtige Erkenntnis, fand auch die
       Jüdische Gemeinde.
       
       Nur einem gefiel das Ergebnis nicht: dem Sohn von Georg Beuchel.
       
       Seitdem der Aufsatz öffentlich ist, seit vier Jahren, überzieht er die
       Historiker und sämtliche Behörden, Ämter und Politiker:innen in
       Thüringen mit Beschwerden, Drohungen, Beleidigungen. Er hat Anzeigen
       erstattet, hunderte E-Mails und Briefe geschrieben und er trägt seinen
       Ärger in die Öffentlichkeit.
       
       Fleischhauer und seine Kollegin sind nicht die ersten, die die Erfurter
       Novembernacht 1938 bearbeitet haben. Aber sie sind die ersten, die mit neu
       aufgetauchten Akten gearbeitet haben. Sechs Archive haben sie aufgesucht,
       in Thüringen, Baden-Württemberg und Bayern. Sie haben mit Dokumenten aus
       den 1930er bis 1960er Jahren gearbeitet, mit Papieren der Polizei, von
       Staatsanwaltschaften, Gerichten und der Stasi.
       
       Georg Beuchel war in den 1930er Jahren ein angesehener Kaufmann in Erfurt.
       In seinen Autohäusern verkaufte und reparierte er Opel, beschäftigte 100
       Mitarbeiter:innen.
       
       Beuchel selbst war 1938 Mitglied der SS und des Nationalsozialistischen
       Kraftfahrer-Korps, einer Unterabteilung der NSDAP. In der Nacht vom 9. auf
       den 10. November 1938 traf er in einer Kneipe auf Mitglieder der SA, die
       ihn nach einer größeren Menge Benzin fragten. So haben es die Erfurter
       Historiker aus den Polizeiakten rekonstruiert. Beuchel besorgte rund 60
       Liter Benzin an seiner Tankstelle und brachte sie zur Synagoge.
       
       Die Tür wurde aufgebrochen, der Innenraum verwüstet, das Benzin verschüttet
       und angezündet. Auch Beuchel war offenbar in der Synagoge. Ob und inwieweit
       er an der Verwüstung mitwirkte, ist unklar. Was er jedoch eingestanden hat,
       ist, dass er der Synagogenzerstörung nicht nur zusah, sondern anschließend
       noch in eine Turnhalle fuhr, in der Juden brutal zusammengetrieben worden
       waren, geschlagen und misshandelt wurden.
       
       ## Die Synagoge brannte nieder, die Feuerwehr schaute zu
       
       180 Juden wurden schließlich in das KZ Buchenwald verschleppt, 5 von ihnen
       starben dort. Die Synagoge brannte nieder, die Feuerwehr schaute tatenlos
       zu. Die Kriminalpolizei notiert im Mai 1945, es sei ein „offenes Geheimnis“
       im Betrieb Beuchel, dass der Chef an der Brandstiftung beteiligt war.
       Zeugen hatten ihn belastet, Beuchel selbst hatte gestanden, das Benzin
       besorgt zu haben. Wofür, das sei ihm laut Aussage allerdings nicht bewusst
       gewesen.
       
       Anfang 1948 ist Beuchel mit seiner Familie in den Westen geflüchtet. 1947
       war er enteignet worden, das Verfahren in Erfurt wurde eingestellt, obwohl
       die Polizei von seiner Beteiligung überzeugt war. Anfang der 60er Jahre
       wurde in der Westzone ein Verfahren gegen andere Beteiligte der Erfurter
       Brandstiftung geführt, dort wurde Beuchel nur noch als Zeuge vernommen,
       nicht mehr als Beschuldigter. Der Historiker Tom Fleischhauer sagt, ein
       „Gerangel aus Zuständigkeiten“ habe einen Prozess gegen Beuchel verhindert.
       „Das heißt aber nicht, dass Beuchel unschuldig ist“, so Fleischhauer.
       
       Das sieht sein Sohn allerdings anders.
       
       Michael Beuchel wird im Sommer 90 Jahre alt und lebt in Tübingen. 1935 ist
       er in Erfurt geboren, als die Synagoge angezündet wurde, war er drei. Nach
       dem Krieg ist seine Familie mit ihm in den Westen geflohen, Beuchel hat
       fast sein ganzes Leben in Baden-Württemberg verbracht. Am Telefon spricht
       er freundlich, nur als er auf die Sache mit der Synagoge zu sprechen kommt,
       wird er ungehalten. Er schimpft auf die Historiker, beleidigt die Behörden
       und Ämter in Thüringen.
       
       Zitate aus den Gesprächen will er später aber nicht freigeben. Stattdessen
       schickt er Dokumente und E-Mails, die seinen Vater entlasten sollen. Er
       bestreitet nicht, dass sein Vater in der Synagoge war, sieht ihn aber als
       Opfer von Intrigen. Er beruft sich auf einen jüdischen Freund, der seinem
       Vater nach Kriegsende einen freundlichen Brief geschrieben hatte, auf
       jüdische Nachbarn der Familie, die angeblich nichts zu beanstanden hatten.
       Und auf einen Kommunisten, den der Vater beschäftigt hatte. „Mein Vater war
       ein Judenfreund“, schreibt Michael Beuchel – und droht am Telefon, wenn die
       taz nicht die Wahrheit über seinen Vater schreibe, werde das teuer werden.
       
       Vier Strafanzeigen hat er bei der Erfurter Staatsanwaltschaft gestellt.
       Weil sich der zuständige Staatsanwalt weigerte, ein Ermittlungsverfahren
       einzuleiten, hat Beuchel auch Strafanzeige gegen den Staatsanwalt gestellt.
       Beim Erfurter Oberbürgermeister hat er eine Dienstaufsichtsbeschwerde
       abgegeben und den thüringischen Ministerpräsidenten um Hilfe gebeten. Er
       hat sich bei den Vorgesetzten der Historiker beschwert und an die Thüringer
       Justizministerin, die [1][Jüdische Landesgemeinde] und die
       Antisemitismusbeauftragte geschrieben. Einen Anwalt hat er beauftragt, im
       Staatsarchiv Hannover nach alten Ermittlungsakten zu suchen.
       
       Bei Wikipedia, wo [2][im Beitrag zur Großen Synagoge Erfurt] zur Rolle
       seines Vaters nichts steht, außer ein Literaturhinweis zu dem Aufsatz von
       Fleischhauer, hat er wilde Diskussionen angefangen. Er schreibt dort von
       „Geschichtsfälschung“ und „Hetze“, von der Verunglimpfung seines Vaters.
       Bei der Uni Jena drängt er darauf, dass der [3][Text über die
       Synagogen-Brandstiftung] von einer Website gelöscht wird. Er droht mit
       Anzeigen und hohen Strafzahlungen. Er verlangt Schmerzensgeld und
       Entschädigung.
       
       Es ist nicht so, dass Michael Beuchel damit Erfolg hat. Bei Wikipedia
       halten ihm Moderator:innen entgegen, dass die Recherche von
       Fleischhauer und seiner Kollegin gut belegt sei. Auch die Uni Jena hält an
       ihrer Veröffentlichung fest. Tom Fleischhauer sagt, er erhalte viel
       Unterstützung von Kolleg:innen und Vorgesetzten.
       
       Aber was Beuchel schafft: Er lähmt die Beteiligten. Er schüchtert sie ein.
       Die Rufschädigung, die er den Historiker:innen vorwirft, betreibt er
       selbst.
       
       Auch [4][Jens-Christian Wagner] erhält E-Mails von Michael Beuchel, teils
       mehrere am Tag. Wagner leitet die KZ-Gedenkstätten in Buchenwald und
       Mittelbau-Dora. Er kennt solche E-Mails wie die, die Beuchel schreibt.
       „Aber in der Vehemenz, das ist außergewöhnlich“, sagt er.
       
       ## Neue Abwehrhaltung gegenüber der NS-Forschung
       
       Wagner findet die Arbeit von Tom Fleischhauer und seiner Kollegin
       überzeugend. Er schätzt sie vor allem dafür, dass sie an einer konkreten
       Person erzählt, wie die Synagogenbrandstiftung abgelaufen ist. „Es geht
       nicht darum, mit dem Finger auf Georg Beuchel zu zeigen. Es geht darum zu
       zeigen, dass hinter jedem historischen Ereignis Personen stehen, die die
       Geschichte vorantreiben.“
       
       Gerade heute sei das wichtig, sagt Wagner, denn die Abwehrhaltung gegenüber
       der NS-Forschung habe deutlich zugenommen. In Führungen erlebten er und
       seine Mitarbeiter:innen immer häufiger, dass NS-Verbrechen offen
       infrage gestellt werden. Besucher:innen weigerten sich, mitzuarbeiten,
       die Reflexion darüber, was der Nationalsozialismus mit heute zu tun habe,
       sei von vielen nicht mehr erwünscht.
       
       „Dramatisch ist das vor allem bei jungen Leuten. Denen fehlt der
       biografische Bezug zu der Zeit, sie haben keine Vorstellung mehr von den
       Verbrechen“, sagt Wagner. Auch sie versuchten, sich von der Geschichte
       reinzuwaschen. Ihre Motivation sei eine andere als bei Beuchel, das
       Narrativ ähnlich. „Leute wie Michael Beuchel sagen: Mein Vater war kein
       Nazi. Leute wie Maximilian Krah sagen: Nicht alle, die eine SS-Uniform
       anhatten, waren Nazis.“
       
       Nicht alle, bei denen sich Beuchel beschwert, bekennen sich öffentlich so
       eindeutig zu der Arbeit von Fleischhauer und seiner Kollegin wie
       Jens-Christian Wagner. Das Thüringer Justizministerium, die Thüringer
       Antisemitismusbeauftragte und eine Sprecherin der Stadt Erfurt schicken auf
       die taz-Anfrage eine fast wortgleiche Antwort. Aus Datenschutzgründen
       könnten sie sich zu diesem Fall nicht äußern. Was sie nicht tun: Die
       Historiker öffentlich verteidigen, sich hinter die Aufklärung von
       NS-Verbrechen stellen.
       
       Fleischhauer ist es unangenehm, dass seine Forschung so viele Leute
       beschäftigt. Nicht ihres Inhalts, sondern ihrer Auswirkungen wegen. Der
       nächste Aufsatz ist fertig zur Frage, warum Georg Beuchel nie
       strafrechtlich belangt wurde. Nur weiß er nicht, wo er den veröffentlichen
       soll. Er glaubt nicht, dass er einen Verlag findet, der die nächste
       Konfrontation mit Beuchel riskiert.
       
       Michael Beuchel hingegen will weitermachen.
       
       Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Textes hieß es, Georg
       Beuchel habe in seinen Autohäusern auch Volkswagen verkauft, das ist nicht
       korrekt. Er hat ausschließlich Opel verkauft und repariert. Wir haben die
       Stelle korrigiert.
       
       6 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.jlgt.org/
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe_Synagoge_(Erfurt)
   DIR [3] https://www.juedisches-leben-thueringen.de/pogrome-1938/erfurt/
   DIR [4] /350000-Briefe-an-Thueringerinnen/!6028360
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anne Fromm
       
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