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       # taz.de -- Briefwechsel mit Heinrich Böll: Ingeborg Bachmann schrieb lange aus männlicher Perspektive
       
       > Der Briefwechsel zwischen Bachmann und Böll führt in eine Zeit, in der
       > Rollenspiele für eine Frau im Literaturbetrieb überlebenswichtig waren.
       
   IMG Bild: Martin Walser, Heinrich Böll und Ingeborg Bachmann bei einer Tagung der Gruppe 47 im Mai 1955
       
       Wie genau ziehen sich Gegensätze an? Ingeborg Bachmann und Heinrich Böll
       haben auf den ersten Blick fast nichts miteinander zu tun – hier die
       rätselhafte, scheue und form- wie selbstbewusste Lyrikerin, dort der
       realistische, alltagszugewandte Romanautor. Sie lernten sich als junge und
       unbekannte Schriftsteller Anfang der 1950er Jahre auf einer Tagung der
       Gruppe 47 kennen, die im damals tonangebenden literarischen Milieu kaum
       beachtet wurde. Darin lag offenkundig die Gemeinsamkeit, die sie spürten.
       
       Der erste Brief, den Böll an Bachmann schrieb, ist leider nicht mehr
       erhalten – der Anknüpfungspunkt und die Tonlage wären sehr interessant. Der
       Antwortbrief Bachmanns vom 12. Dezember 1952 steht also am Anfang der nun
       vorliegenden Korrespondenz, mit dem Schluss-Satz: „Es ist gut zu wissen,
       dass es Sie gibt.“
       
       Die Briefe handeln sehr oft von tagesaktuellen Problemen, von finanziellen
       Zwängen und Brotaufträgen, die der Literatur immer wieder im Weg stehen.
       Der zehn Jahre ältere Böll, ein besessener Schreibarbeiter und Vater
       mehrerer Kinder, gibt Bachmann, die sich auf eine für eine Frau in dieser
       Zeit [1][völlig außergewöhnliche Existenz] als freie Schriftstellerin
       einlässt, praktische Tipps und weist sie zum Beispiel auf eine
       Kurzgeschichtenagentur hin. Eine neue Dynamik entwickelt sich um die Tagung
       der Gruppe 47 am Cap Circeo im Frühling 1954. Es war ihre erste
       Auslandstagung. Die in Italien lebende Ingeborg Bachmann hatte südlich von
       Rom einen passenden Ort ausfindig gemacht und Gruppenchef Hans Werner
       Richter davon überzeugt. Als Römerin bildete sie dann so etwas wie den
       geheimen Mittelpunkt dieses Treffens.
       
       Einige Teilnehmer blieben danach noch in Rom, darunter Böll. Es gibt kaum
       Hinweise darauf, wie diese Tage im Einzelnen verliefen. Doch in der ersten
       Reaktion Bölls, einer Karte auf der Rückreise aus Luzern, hat sich der Ton
       spürbar geändert. Er spricht vom „Gepäck – wenn’s eines ist“ –, das er in
       Rom zurückgelassen habe, und fügt hinzu: „Wenn Sie manchmal am Bahnhof
       Termini vorbeikommen, gedenken Sie des Gepäcks, das dort liegen könnte.“
       Eine gewisse Affiziertheit ist unverkennbar. Später geht es noch um eine
       Taxifahrt im Regen und um einen prickelnden „Frizzante“.
       
       ## „Sie küsst in den Bars mit dem Strohhalm“
       
       In den nächsten Wochen tauchen Themen auf, über die wohl gesprochen wurde.
       So scheinen Bölls Erfahrungen als junger Soldat der Wehrmacht eine Rolle
       gespielt zu haben. Bachmann schrieb in dieser Zeit einige Seiten an einem
       Romanprojekt namens „Eugen“, das einen solchen Kriegsheimkehrer in den
       Mittelpunkt stellt. Auch um Bölls tiefen katholischen Glauben dürfte es
       gegangen sein. Als Bachmann in erster Linie aus Geldgründen ein
       Radiofeature über die rebellische Mystikerin Simone Weil schreibt, tauschen
       sich die beiden über ihr Verhältnis zum Christentum aus.
       
       Vor allem erhält Bachmanns Rolle in der Gruppe 47 einige neue Konturen.
       Böll bittet sie um das Gedicht „von der“, wie er schreibt, „treulosen
       Geliebten“, das sie am Cap Circeo gelesen habe und ihn offenkundig
       umtreibt. Er meint „Nebelland“, wo es zum Schluss heißt: „Treulos ist meine
       Geliebte, / ich weiß, sie schwebt manchmal / auf hohen Schuh’n nach der
       Stadt, / sie küsst in den Bars mit dem Strohhalm / die Gläser tief auf den
       Mund, / und es kommen ihr Worte für alle. / Doch diese Sprache verstehe ich
       nicht.“
       
       Es ist für Bachmann zentral, dass sie lange Zeit konsequent aus männlicher
       Perspektive schrieb, denn diese war die dominante. Eine autonome weibliche
       Sprache, so sagte sie später, stand in ihrem gesellschaftspolitischen
       Umfeld nicht zur Verfügung. Mit dem Blick des Mannes beschreibt sie hier
       allerdings eine ganz bestimmte Erscheinungsform einer Frau. Sie, die früh
       gelernt hat, [2][mit Masken und Rollen zu spielen,] versucht damit, ihre
       eigene Position zu umreißen. Bachmann evoziert die Fantasien, die mit ihr
       selbst als unabhängiger weiblicher Person verbunden werden und Abwehr
       auslösen („diese Sprache verstehe ich nicht“).
       
       In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Böll einen Monat später scheinbar
       unvermittelt mitteilt: „Übrigens habe ich Shakespeares ‚Troilus und
       Cressida‘ noch einmal gelesen.“ Die Herausgeberin des Briefwechsels
       schreibt in ihrem Kommentar: „Bezug unklar. Es gibt keinen Hinweis darauf,
       warum sich Böll damit befasste.“ Doch Böll schreibt das wohl keineswegs im
       luftleeren Raum. Die Protagonisten jenes Dramas – ein verliebter Pazifist
       und eine hoch gehandelte weibliche Trophäe – entsprechen der aktuellen
       Konstellation, die er ironisch heraufbeschwört. Was Bachmann über die
       römischen Tage nach dem Gruppentreffen wiederum an Hans Werner Richter
       adressiert, also auf einer ganz anderen Bühne, komplettiert das Bild:
       „Sonst ist alles gut ausgegangen, obwohl die Gruppe nie wieder abzureisen
       drohte, und manchmal hab ich noch das Gefühl, wenn ich durch die Straßen
       gehe, es könnte einer auftauchen, der’s vergessen hat.“
       
       ## Beide gehören zu einer oppositionellen Minderheit
       
       Auch im privaten Umfeld sind die Unterschiede zwischen Böll und Bachmann
       groß. Sie lebt allein, schreibt langsam und klagt immer über Geldnot, er
       dagegen ist ein umtriebiger Autor und Vater, der seine Alltagssorgen so
       schildert: „Ich fahr gern Auto und viel, man ist so schnell damit weg und
       hat so rasch alles eingepackt / Frau, Kinder, ein bisschen Gepäck und einen
       Vorschuss in der Tasche.“ Ist Böll ein Kind seiner Zeit, in der eine
       Ehefrau ohne Einwilligung ihres Mannes nicht einmal Geld auf der Bank
       abheben konnte? Allerdings arbeitet er mit seiner Frau Annemarie als
       Übersetzerin zusammen und klagt mehrfach ein, dass sie dabei auch offiziell
       genannt wird – etwa dem Suhrkamp Verlag gegenüber, der sich durch Bölls
       exklusiven Namen mehr Aufmerksamkeit verspricht. Damit fällt Böll durchaus
       als Ausnahme auf.
       
       Generell ist es wichtig, sich die zeitgeschichtlichen Umstände zu
       vergegenwärtigen. Was Böll und Bachmann verbindet, ist ihre damals äußerst
       exponierte politische Haltung. Sie gehören in der Adenauerrepublik zu
       einer oppositionellen Minderheit. Die Gruppe 47 wird von den
       rechtskonservativen literarischen Wortführern wie Friedrich Sieburg oder
       Hans Egon Holthusen ignoriert oder verachtet, und dass Bachmann sich 1958
       mit Hans Werner Richter gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr
       engagiert, ist ein Bekenntnis.
       
       Die Konsequenzen sind nicht unerheblich: Die Polizei durchkämmt
       unangekündigt und ohne offiziellen Durchsuchungsbefehl Richters Haus,
       etliche Unterlagen werden beschlagnahmt. Nur vor solchen Hintergründen ist
       erklärbar, dass die Tagungen der Gruppe 47 im Bachmann/Böll-Briefwechsel
       als eine Art imaginärer Heimat empfunden werden: „Kommst Du zu den 47ern?“,
       heißt es wiederholt, und vor der Tagung 1960 schreibt Bachmann: „Gut, dass
       es Aschaffenburg gibt, dass Du auch hinkommst.“
       
       Im Jahr 1965 wendet sich Bachmann an Böll, weil sie, die mit der SPD
       überhaupt nichts am Hut hat, sich der Kampagne von Günter Grass für einen
       Bundeskanzler Willy Brandt anschließt: „Ich hätte diese Rolle noch vor
       einiger Zeit nicht gern übernommen, weil ich mich weit ‚links‘ davon sehe
       und begreife, aber darum geht es jetzt wohl nicht.“ Dieser Briefwechsel
       gibt erstaunliche Einblicke in eine Zeit, die mit der unsrigen kaum etwas
       zu tun hat – außer der Erkenntnis, unter welch schwierigen Bedingungen
       vieles erkämpft wurde, was heute selbstverständlich anmutet.
       
       25 Jun 2025
       
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