URI: 
       # taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Hilka Dirks: Wie schlafen eigentlich Herdentiere?
       
       > Am Wochenende kriecht die Müdigkeit in den Kopf und mit ihr Gedanken über
       > das Wesen der Tiere, der Menschen und des Kulturprekariats.
       
   IMG Bild: Warum stehen Kühe eigentlich immer in die gleiche Richtung gerichtet?
       
       Auf dem Sofa liegend betrachte ich das Wespennest an meinem
       Fenstervorsprung. Irgendwann im Frühjahr war es mir aufgefallen. Wie ein
       murmelgroßer Papierklumpen schwebte es am oberen Sims. Eine einzelne Wespe
       kroch tagelang drum herum und klebte Schicht um Schicht dran. Bauen Wespen
       Häuser aus Spucke?
       
       Nun ist es groß. Sehr groß. Sein Eingang schiebt sich seitlich nach
       draußen, und immer noch bauen die Insekten an ihrer Dune-mäßigen
       Architektur. Es sind irre viele geworden. So ganz verstehe ich nicht, wie
       das funktionierte. Erst war doch nur eine da. Hat sie die anderen
       sukzessive aus ihren eigenen Eiern aufgezogen? Oder sind die später
       eingezogen, als mehr Platz da war? Wie schlafen eigentlich Wespen? Suchen
       sie den Körperkontakt der anderen? Mir fallen selbst fast die Augen zu.
       
       Es ist Freitag am frühen Abend. Ich habe A. im Brandi getroffen.
       Größtenteils sprachen wir über Arbeit und Schreiben. Das Elend der
       universitären Laufbahn und das Elend des untergehenden Kulturjournalismus
       vereint über [1][zwei alkoholfreien Peroni]. Ein bisschen
       romantisch-soziales Berliner Sommerelend obendrauf, bis A. in ein Telefonat
       mit einem weltberühmten Kurator verschwand.
       
       ## Im lauen Wind nach Kreuzberg
       
       Ich hämmere lustlos noch ein paar Zeilen in meinen Laptop, um mich
       anschließend aufzuraffen, wieder nach Kreuzberg zu fahren, wo Freunde mich
       zum Abendessen auf ihre Dachterrasse eingeladen haben. Arbeiten, um dann
       darüber zu sprechen, wenn man nicht arbeitet, denke ich auf dem Roller,
       während mir lauer Wind auf dem Kottbusser Damm ins Gesicht bläst. Er riecht
       nach warmen Erdbeeren und Urin.
       
       Ich bin spät dran. Auf der Terrasse herrscht ausgelassene Stimmung, es gibt
       Rosé und gegrillte Dorade, es wird gesessen und rumgestanden, viel gelacht.
       B. und L. haben sich auf Barhockern in der Ecke eingerichtet, von wo aus
       sie die Terrasse überblicken, und glucksend den Abend kommentieren. Ihre
       Stimmung ist waghalsig, ansteckend, warm. Im Hintergrund läuft
       vietnamesischer Synthie-Pop aus den 80ern: „unshazamble“, wie G. trocken
       betont. Fraglos ein Qualitätsmerkmal.
       
       Irgendwann wird ein bisschen getanzt. Die Nacht wird länger. Die
       Zigarettenschachteln leerer. Nachtisch serviert, nachgeschenkt. Die
       Cocktails werden experimenteller, das Gleichgewicht schwerer zu halten.
       Alles endet mit vielen müden Menschen und noch viel mehr Gliedmaßen auf
       einem beigen Sofa zugedecket vom breiten, wabernden Gefühl dicker
       Freundschaft. Auf dem Weg nach Hause muss ich an die Wespen denken.
       
       ## Die Kühe vom Grill Royal
       
       Samstag ist der Kopf sehr schwer. Die Augen wollen nicht recht aufgehen.
       Auf dem Weg zum See stechen die Mücken. Der Tag erscheint ungewohnt frei,
       das Buch in der Tasche ungewohnt schwer, das Wetter ungewohnt kühl, die
       Laune entsprechend gedrückt. Auf der Rückfahrt komme ich an beigen
       Kuhherden vorbei. „[2][Das sind die Kühe vom Grill Royal]“, sagt B. Ich
       betrachte sie lange.
       
       Ihre feuchten Schnauzen, ihre dicken, langen Zungen. Ich möchte meine Hand
       in ihr Maul schieben. Warum stehen Kühe eigentlich immer in die gleiche
       Richtung gerichtet? Ihr sonores Kauen beruhigt das wunde Hirn. Dass eine
       dieser noblen Kreaturen zukünftig von Kanye West oder Jens Spahn verspeist
       werden könnte, ist unendlich traurig (dabei bin ich nicht mal
       Vegetarierin). Die Körper der Kühe drücken sich schwer aneinander.
       
       Rausgehen und rumstehen. Ein Leben lang. Ich denke an die kleine Meditation
       „The Cows“ der Autorin Lydia Davis, in der sie ein Jahr lang drei Kühe
       beobachtet: „Sie kennen nicht die Wörter „Person“, „Nachbar“, „beobachten“
       oder auch nur „[3][Kuh]“.“ Ich denke an ein Gespräch über die gezeichnete
       Rückenlinie von Tieren. Ich denke an die flirrende Wärme einer Herde. An
       Nächte in Berliner Restaurants. An ein Sofa voller Gliedmaßen. [4][An die
       Wespen vor meinem Fenster]. Und daran, meinen Kopf gegen einen anderen
       Körper zu pressen. Wie schlafen eigentlich Kühe?
       
       7 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Alkoholfreies-Landgasthaus/!6001332
   DIR [2] /Quer-durch-das-Rindslokal-AUSGEHEN-UND-RUMSTEHEN/!238149/
   DIR [3] /Wie-ist-die-allererste-Kuh-entstanden/!5752349/
   DIR [4] /Die-Wahrheit/!5875157
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hilka Dirks
       
       ## TAGS
       
   DIR Berliner Nachtleben
   DIR Kultur in Berlin
   DIR Literatur
   DIR Kühe
   DIR Ausgehen und Rumstehen
   DIR Nachtleben
   DIR Ausgehen und Rumstehen
   DIR Kneipe
   DIR Großstadt
   DIR Tanzen
   DIR deutsche Literatur
   DIR Film
   DIR Fashion
   DIR Ausgehen und Rumstehen
   DIR Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Flanieren im Berliner Stadtbild: Über die Spree und es zieht wie Hechtsuppe
       
       In Kreuzberg, Neukölln und im Plänterwald kann man auch übers Stadtbild
       reden, da begegnen einem nämlich Füchse, Waschbären und Die Sterne.
       
   DIR Bedrohte Kneipe: Wenn das Broschek überlebt
       
       Bier und Kraut-Tech-Punk. Unsere Autorin tauchte in einer Neuköllner Kneipe
       ab – und die ringt um ihre Existenz.
       
   DIR Vom Feiern, Reden, Denken: Rosa Würste in der blauen Stunde tauschen
       
       Die Stadt steht still, der Sommer auch und im Kopf ist es manchmal einfach
       zu voll.
       
   DIR Feiern in Berlin: Auf dem Dancefloor ist viel Love
       
       Vom Kindergeburtstag in den Erwachsenenclub: Beim Berliner Wochenende voll
       wohltemperierter Euphorie ist die Welt mal fast in Ordnung. Oder?
       
   DIR Debüt-Roman von Publizist Sascha Ehlert: In den Washington-Palmen nisten die Ratten
       
       Hollywood als Zuflucht, Pop als Frage. Publizist Sascha Ehlert holt in
       seinem Debütroman „Palo Santo“ Billy Wilder ins Jetzt zurück. Funktioniert
       das?
       
   DIR Debütfilm über Teenager von Willy Hans: Die Sonne sticht in helle Haut und nichts geschieht
       
       In seinem Debütfilm „Der Fleck“ inszeniert Willy Hans jugendliche Trägheit
       in weichem Licht, mit assoziativer Magie.
       
   DIR Berlin Fashion Week: Mit vollem Anachronismus voraus
       
       Das Programm der Berlin Fashion Week war ungewöhnlich dicht, das Publikum
       ungewöhnlich begeistert. Fünf Momentaufnahmen voll Hitze und Zeitreisen.
       
   DIR Gallery Weekend Berlin: Ein Versprechen auf eine Zukunft ohne Chef
       
       In den Schaufenstern des KaDeWes steht seit dem Wochenende Kunst. Der
       Besuch der Eröffnung hinterlässt bei unserer Autorin unentschlossene
       Gefühle.
       
   DIR Popkultur der 2000er Jahre: Das bin doch alles ich
       
       In den Ruinen des Kapitalismus: Julia Friese webt in „delulu“ ein Netz aus
       popkulturellen Verweisen und Glamourversprechen.