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       # taz.de -- Utopie eines Israel-Palästina: Eine Vision in dunkler Zeit
       
       > Der Kulturzionist Martin Buber wird neu gelesen. Seine Utopie eines
       > binationalen Israel-Palästina eröffnet Perspektiven, die es dringend
       > braucht.
       
   IMG Bild: Zwei-Staaten-Lösung: Rund 15.000 Israelis demonstrieren für eine friedliche Lösung in Tel Aviv, am 27. Mai 2017
       
       Vor Kurzem erschien in den USA eine englischsprachige Neuausgabe der
       Schriften des [1][Philosophen Martin Buber] „Ein Land und zwei Völker“. Ist
       die Vorstellung eines binationalen Staats in Palästina, die der
       galizisch-österreichische Kulturzionist vertrat, heute auf neue Weise
       relevant? Der palästinensische Philosoph Raef Zreik hat dem Band ein
       nachdenkliches Vorwort gestiftet – das ist bereits ein Teil der Antwort.
       Und Jewish Currents, das älteste linksjüdische Periodikum in den Staaten,
       druckte Zreiks Text nach, womit ein kleiner Diskurs von jener Art
       entstanden ist, die in Deutschland weitgehend fehlt.
       
       Bei aller Kritik an Bubers eurozentrischem Dünkel findet Raef Zreik bei dem
       jüdischen Humanisten einen entscheidenden Gedanken: dass nämlich
       Ungerechtigkeit, wenn sie nicht zu verhindern ist, auf das absolut
       Notwendige zu beschränken sei. Dies, folgert Zreik, schaffe den Raum, sich
       eine andere Realität in Israel-Palästina vorstellen zu können, zumal heute
       – anders als zu Bubers Zeit – zwischen Mittelmeer und Jordan eine faktische
       Binationalität existiert, unter Israels Herrschaft.
       
       Wie in seinen anderen Texten wirbt Raef Zreik dafür, die nationale
       Selbstbestimmung von Juden und Jüdinnen in Palästina anzuerkennen („Sie
       bilden heute die dritte oder vierte Generation in diesem Land und kennen
       keine andere Heimat“), doch unter dem Vorzeichen eines Abschieds von
       siedlerkolonialen Bestrebungen.
       
       Binationalismus – so lautet also sein Update von Martin Buber – kann heute
       nur als Projekt von Dekolonisierung gedacht werden. Für Details dazu ist
       hier nicht der Platz, doch scheint mir Zreiks Quintessenz wichtig: Jüdische
       Selbstbestimmung anzuerkennen sei nicht das Gleiche wie die Akzeptanz von
       Zionismus. „Wir sollten fähig sein, uns einen jüdischen Nationalismus in
       Palästina vorstellen zu können, der nicht kolonial ist.“
       
       ## Es braucht die konstruktive Fantasie
       
       Das ist natürlich verwegen utopisch. Doch sind gerade in dystopischer
       Dunkelheit Visionen nötig. Während der Protest gegen den Genozid in Gaza
       und die deutsche Mittäterschaft ethisch absolut geboten ist, muss zugleich
       der Slogan vom freien Palästina „from the river to the sea“ demokratisch
       und human gefüllt werden. Und das ist in einem Moment, da finale ethnische
       Säuberungen drohen, keineswegs politisches Topflappenhäkeln. Ohne
       konstruktive Fantasie droht die Gaza-Solidaritätsbewegung in ihrem Schmerz,
       ihrer Verzweiflung und Machtlosigkeit in einen Nihilismus auf der Stufe von
       „Death to the IDF“ abzugleiten.
       
       Im Trommelfeuer heutiger Kriegsgewalt erinnert die Lektüre von Buber an
       eine verschollen scheinende Sensibilität. Das Vertreibungsmassaker von 1948
       in Deir Yassin war für ihn nicht allein ein Verbrechen an den arabischen
       Opfern, sondern auch am jüdischen Geist. Ich halte hier kein Plädoyer für
       einen besseren Zionismus. Aber die Geschichte seiner binational denkenden
       Minderheiten zu kennen, ist hilfreich – gerade in der Opposition zu einer
       Staatsraison, die uns die Verpflichtung auf einen genozidal agierenden
       Turbozionismus als Lehre aus dem Holocaust verkaufen will.
       
       Der israelische Historiker Shlomo Sand, erklärtermaßen ein Postzionist,
       lässt in „Ein Staat für zwei Völker?“, das gerade auf Deutsch erschienen
       ist, alle historischen Protagonisten Revue passieren, die keine jüdische
       staatliche Souveränität anstrebten oder zumindest keine jüdische Hegemonie.
       Die wenigsten waren so konsequent wie Bubers Gefährte Hans Kohn, der mit
       den Worten „Zionismus ist nicht Judaismus“ seine leitende Stellung bei der
       Jewish Agency in Jerusalem hinwarf und in die USA emigrierte. Auch noch
       nach dem Holocaust forderten Weitsichtige wie Hannah Arendt einen föderalen
       Rahmen des Zusammenlebens – andernfalls drohe, so Arendt, „die
       Versteinerung“ des Konflikts.
       
       ## Schnee von gestern oder Zukunftsmusik?
       
       Der jüdische Staat, wie ihn der UN-Teilungsplan von 1947 vorsah, war
       übrigens mit einer arabischen 45-Prozent-Minderheit in demografischer
       Hinsicht faktisch binational. Erst [2][die Vertreibungen durch Nakba und
       Krieg] brachten Israel jene überwältigende jüdische Mehrheit, welche die
       zionistische Führung stets im Auge hatte. Zuvor hatte ein Minderheitsvotum
       bei den UN, vertreten durch Indien, Iran und Jugoslawien, eine
       jüdisch-palästinensische Föderation gefordert – Schnee von gestern oder
       Zukunftsmusik?
       
       In Deutschland ist das Wissen über Zionismus wie über nichtzionistische
       Sichtweisen jüdischer Geschichte verblüffend gering. An klugen Büchern
       mangelt es nicht, doch im politischen Raum ist eine selbstverschuldete
       Unmündigkeit entstanden, aufgrund derer israelische Regierungspropaganda
       bei Journalisten und Abgeordneten leichtes Spiel hat. Das war nicht immer
       so. Aber in den letzten 20 Jahren hat intellektuelle Verflachung – im Takt
       mit der Rechtsdrift in Israel – einen autoritären deutschen
       Dünnbrett-Zionismus entstehen lassen: Demnach ist nur ein einziges
       Verständnis von jüdischer Sicherheit erlaubt, nämlich jene ethnoreligiöse
       Suprematie, die kein Ende der Besatzung erlaubt.
       
       Eine Position wie etwa die des US-amerikanischen Journalisten Peter
       Beinart, der judaistisch-religiös gegen jüdische Vorherrschaft
       argumentiert, wirkt wie von einem anderen Stern. Der israelisch-deutsche
       Philosoph Omri Boehm durfte wegen seiner binationalen Überzeugungen [3][die
       vereinbarte Rede in der Gedenkstätte Buchenwald nicht halten] – niemand aus
       der deutschen Politik nahm ihn gegen die Diffamierungen der israelischen
       Botschaft in Schutz.
       
       Vor einiger Zeit sagte Boehm, auf die israelischen Streitkräfte wie auf die
       Hamas gemünzt: „Wir müssen lernen, die aktuellen Verbrechen als Verbrechen
       zu sehen, die gegen unsere eigenen zukünftigen Bürger gerichtet sind. Eines
       Tages werden sie so gesehen werden. Es ist die einzige Hoffnung, die wir
       haben.“
       
       9 Jul 2025
       
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