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       # taz.de -- Gaza-Tagebuch: „Mein Herz will es glauben“
       
       > Jedes Gerücht über eine bevorstehende Waffenruhe löst in den Straßen von
       > Gaza Jubel und Hoffnung aus. Genauso schnell kommt die Ernüchterung.
       
   IMG Bild: Verzweifelt: Menschen in Gaza-Stadt
       
       Ich bin es leid, zu warten. Ich habe genug von den falschen Hoffnungen, die
       uns täglich gemacht werden. Immer wieder versprechen sie, dass der Krieg
       bald vorbei sein wird, dass ein Waffenstillstand kurz bevorsteht. Ich
       klammere mich an diese Versprechen wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm.
       Ich sage mir: Halte durch, bleib am Leben, es dauert nicht mehr lang. Aber
       die Tage vergehen, und nichts ändert sich.
       
       Seit einer Woche leben wir nun schon mit der Nachricht von einem möglichen
       Waffenstillstand. Allein das Gerücht einer „vorläufigen Vereinbarung“
       reichte aus, um die gesamte Straße in Gaza in Aufruhr zu versetzen. Freude
       und Hoffnung kehrten langsam in die erschöpften Gesichter der Menschen
       zurück. Preise für Lebensmittel, die zuvor sogar die in Paris überstiegen
       hatten, sanken plötzlich leicht. Ein Kilo Mehl wurde wieder erschwinglich
       und Waren, die von den Märkten verschwunden waren, tauchten wieder auf. Für
       einen kurzen Moment ließen wir uns täuschen.
       
       Aber diese fragile Freude verflog schnell. Die Verhandlungen gerieten
       erneut ins Stocken, und die steigenden Preise kehrten zurück.
       
       Ich erinnere mich noch sehr gut am vorigen Donnerstag, als die Hamas ihre
       vorläufige Zustimmung zu dem Waffenstillstandsabkommen bekannt gab.
       Plötzlich waren die Straßen voller Jubelrufe und Applaus. Ich sah Kinder
       zwischen den Zelten herumlaufen und vor Freude schreien. Nachts fühlte es
       sich auf der Straße an, als würde Eid gefeiert. Es verbreiteten sich
       Gerüchte, dass US-Präsident „Trump am kommenden Montag den Waffenstillstand
       verkünden wird“. Mein Herz wollte es glauben. Ich war so müde von allem,
       was geschah, und ich wollte glauben, dass ich überleben würde – dass ich
       endlich schlafen könnte, ohne von einer Explosion geweckt zu werden.
       
       ## Mit der Nacht kam die Enttäuschung
       
       Aber seit diesem Moment hat sich das Tempo der Bombardierungen erschreckend
       erhöht. Wir begannen, als befänden wir uns in einem Wettlauf mit dem Tod,
       fürchteten jeden Augenblick, jedes Geräusch eines Flugzeugs, jedes Beben
       der Erde. Ich schloss mich im Zelt ein und versuchte, so wenig wie möglich
       hinauszugehen – nicht nur aus Angst vor den Bomben, sondern weil ich das
       Gefühl hatte, alle meine Kräfte erschöpft zu haben.
       
       Der Montag kam, und mein Herz schwankte zwischen Hoffnung und Angst. Wir
       saßen den ganzen Tag da und warteten auf Neuigkeiten, verfolgten jedes Wort
       und jedes Gerücht wie jemand, der auf das endgültige Urteil über sein Leben
       wartet. Aber der Tag ging zu Ende und Trump verkündete keinen
       Waffenstillstand. Die Dunkelheit brach herein, zusammen mit einer neuen
       Enttäuschung, die wir einer langen Liste von Niederlagen hinzufügten.
       
       Die Leute begannen wieder zu flüstern: „Vielleicht Donnerstag … vielleicht
       Freitag …“ Aber wir wissen sehr gut, was „vielleicht“ hier bedeutet. Mehr
       Tote, mehr Zerstörung, mehr Opfer, mehr Hunger, der uns in den Mägen
       knurrt. Die Menschen sind wie Geister geworden, die durch die Straßen
       wandeln, mit schweren Schritten, leeren Augen und Herzen, die vom Warten
       erschöpft sind.
       
       Selbst wenn die Waffenruhe kommt, was wird sich ändern? Wir haben keine
       Häuser mehr, in die wir zurückkehren können, und das Töten wird nicht
       aufhören. Und doch sehne ich mich verzweifelt danach. Ich möchte
       durchatmen, ein wenig Kraft tanken, bevor diese Hölle wieder losgeht. Ich
       möchte sehen, was aus dem Grab meines Vaters geworden ist, das wir vor
       anderthalb Monaten in Beit Lahia zurücklassen mussten – ist es noch da oder
       wurde es von den israelischen Bulldozern zerstört?
       
       ## Wie in Squid Game
       
       Alles, was wir heute erleben, gibt mir das Gefühl, eine Figur in Squid Game
       zu sein. Wir kämpfen ums Überleben, stehen vor unbekannten
       Herausforderungen und wissen nicht, ob wir es lebend herausschaffen oder
       als Leichen herausgetragen werden. Hier kann man getötet werden, weil man
       um Essen kämpft, weil man seine Familie beschützt oder einfach nur
       versucht, dem Tod zu entkommen. Es gibt keine Überlebensgarantie, keine
       sicheren Straßen – nur Glück kann einem einen weiteren Tag Leben schenken.
       
       Ich weiß nicht, ob ich morgen noch hier sein werde, um diese Worte zu
       lesen. Ich weiß nur, dass ich hoffe, dass der Waffenstillstand zustande
       kommt – nicht, weil er alles wiederherstellen wird, was wir verloren haben,
       sondern weil er uns vielleicht eine Chance gibt, Luft zu holen, eine
       Chance, unseren erschöpften Seelen zu sagen: „Haltet durch, es gibt noch
       Hoffnung.“
       
       Seham Tantesh, 23, aus Beit Lahia, ist die Cousine unserer Reporterin Malak
       Tantesh und wurde insgesamt acht Mal vertrieben. 
       
       Internationale Journalist*innen können seit Beginn des Kriegs nicht in
       den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen
       wir Stimmen von vor Ort ein.
       
       9 Jul 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Seham Tantesh
       
       ## TAGS
       
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