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       # taz.de -- Deutsch-polnische Grenzkontrollen: Geschichte wiederholt sich
       
       > Die heutigen Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze erinnern an eine
       > ähnliche Situation 1938. Die richtete sich damals gegen Jüdinnen und
       > Juden.
       
   IMG Bild: Polnischen Jüdinnen in Nürnberg vor ihrer Ausweisung im Oktober 1938
       
       Die seit eineinhalb Jahren bestehenden Kontrollen an der deutsch-polnischen
       Grenze, auch an kleineren Übergängen, führen nicht nur zu Staus und
       massiven Behinderungen für Berufspendlerinnen und Pendler. Immer wieder
       stellt die Bundespolizei unerlaubte Einreisen fest und verweigert Menschen
       den Zugang nach Deutschland. Seit Kurzem führt auch Polen Zurückweisungen
       an der Grenze zu Deutschland durch. [1][Der polnische Präsident in spe,
       Karol Nawrocki, hatte das in seinem Wahlkampf mit Vehemenz gefordert,]
       rechtsnationale Bürgerwehren sind bereits aktiv und führen selbst illegale
       Kontrollen durch, sodass die Warschauer Regierung handelte und die deutsche
       Praxis dupliziert.
       
       Doch [2][eine Eskalationsschaukel droht], denn die Rechten in beiden
       Ländern treiben die Kabinette vor sich her. Fatale Erinnerungen drängen
       sich auf, schon einmal hatten beide Staaten ihre Grenzen geschlossen und
       Einreisen unmöglich gemacht, es entstand eine Lage an den Grenzen, die mit
       der heutigen vergleichbar war. Das war vor dem Zweiten Weltkrieg, als die
       nationalsozialistische Politik noch nicht auf die Vernichtung, sondern auf
       die Auswanderung der jüdischen Bevölkerung gesetzt hatte.
       
       Im Oktober 1938 kam es zu dem, was als „Polenaktion“ in die Geschichte
       eingehen sollte. Betroffen davon waren in Deutschland lebende polnische
       Jüdinnen und Juden, die sich meist schon seit vielen Jahren im Reich
       aufhielten und kein Interesse an einer Rückkehr in ihre Heimat hatten. Dort
       nämlich grassierte ein virulenter christlicher Antisemitismus, weshalb
       Warschau im März 1938 ein Gesetz verabschiedet hatte, das es erlaubte, den
       eigenen Staatsbürgerinnen und -bürgern bei einem längeren Aufenthalt im
       Ausland die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Gemünzt war das insbesondere
       auf Jüdinnen und Juden, die die Heimat verlassen hatten.
       
       Die deutsche Regierung schuf daraufhin Fakten und ließ vor allem jüdische
       Männer verhaften und an die Grenze transportieren. Dort verweigerte Polen
       allerdings die Aufnahme, sodass Tausende unter elenden Bedingungen
       wochenlang in einer Art Niemandsland ausharren mussten. In Bentschen, dem
       heutigen Zbąszyń, wo in wenigen Stunden mehr als 8.000 Vertriebene
       eintrafen, entstand das wohl bekannteste Camp. Erst angesichts des Elends
       in diesem Notlager sprachen die beiden Regierungen miteinander, doch es
       dauerte bis Januar 1939, bis Polen bereit war, die Menschen doch noch
       aufzunehmen. Trotzdem ließ Berlin in jenen Monaten weitere 10.000 bis
       15.000 Menschen ausweisen, zerstörte deren Existenz und viele kleine Läden
       und Geschäfte, die diese sich in Deutschland aufgebaut hatten.
       
       Die „Polenaktion“ war außerdem der unmittelbare Auslöser für das Attentat
       [3][Herschel Grynszpans, ein in Hannover geborener polnischer Jude,] auf
       den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris.
       Grynszpans Eltern und Verwandte waren von den Ausweisungen betroffen und
       mussten in einem der Lager auf der polnischen Seite der Grenze ausharren.
       Mit seinem Anschlag wollte Grynszpan auf das Leid seiner Familie aufmerksam
       machen, doch da es keinerlei Bezug zwischen ihrem Schicksal und dem
       niederrangigen Pariser Botschaftssekretär vom Rath gab, war dessen Tod kaum
       als Widerstandsakt zu rechtfertigen, weshalb die Motive des Täters in der
       Berichterstattung marginalisiert wurden. Gleichwohl nutzten die
       Nationalsozialisten den Fall, um Antisemitismus zu schüren und die Pogrome
       vom 9. November 1938 auszulösen.
       
       Nun ist 2025 nicht 1938. Zum Glück ähneln die Auswirkungen weder der
       deutschen noch der polnischen Maßnahmen an der gemeinsamen Grenze dem, was
       sich damals abspielte. Bemerkenswert sind aber doch die Parallelen in der
       Wahrnehmung. Da ist die drastische Ablehnung von als fremd empfundenen
       Menschen auf beiden Seiten, die zu einer Politik führt, die der Idee von
       Grenzen als Übergängen von einem Land ins andere widerspricht: Einen Ort
       dazwischen gibt es eigentlich nicht, aber genau darauf laufen beiderseitige
       Zurückweisungen letztlich hinaus.
       
       ## Es kommt schon länger zu Pushbacks
       
       Die große Mehrzahl der Betroffenen hat diese Erfahrung sogar schon gemacht.
       Sie haben meist verschlungene Wege hinter sich, nicht selten vom Horn von
       Afrika über Staaten der arabischen Halbinsel und des Nahen Ostens, von dort
       aus geht es mit dem Flugzeug nach Belarus und vor dort über die streng
       bewachte Grenze nach Polen. Dort kommt es schon länger zu Pushbacks, dem
       Zurückdrängen von Geflüchteten kurz nach dem Grenzübertritt, weil
       offensichtlich keine Einreisevisa vorliegen.
       
       Der preisgekrönte Film „Green Border“ der polnischen Filmemacherin
       Agnieszka Holland hat das bereits 2021 thematisiert und insbesondere auf
       die Schicksale im „Niemandsland“ hingewiesen, in dem sich viele Flüchtlinge
       teils wochenlang aufhalten müssen: Von der einen wie der anderen Seite
       nicht gewollt, drangsaliert und immer wieder in Richtung Grenze getrieben,
       müssen sie ohne Schutz vor dem Wetter und ohne ausreichende Lebensmittel
       und Wasser ausharren. Diese EU-Außengrenze ist in mancherlei Hinsicht
       bereits nah an den Zuständen, die 1938 zu beobachten waren. Doch hier gilt
       weiterhin: Aus den Augen, aus dem Sinn.
       
       Die „Polenaktion“ lehrt zudem, wozu eine sich gegenseitig hochschaukelnde
       Außenpolitik führen kann, die Fakten schafft, bevor sie sich über mögliche
       Konsequenzen ausgetauscht hat. Das schädigt mittelfristig die eigene
       Wirtschaft und treibt empörte Bürgerinnen und Bürger auf die Barrikaden,
       die angesichts einer vermeintlichen Schwäche der eigenen Regierung zur
       Selbsthilfe greifen. Natürlich ist das nicht das Gleiche wie die
       Geschehnisse der Reichspogromnacht. Doch dass die Gewalttaten psychisch
       nicht zurechnungsfähiger Flüchtlinge für allerlei Hetze genutzt werden, ist
       heute wieder zu beobachten.
       
       10 Jul 2025
       
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