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       # taz.de -- Kopftuch für Lehrerinnen in Berlin: Nur noch manchmal ein Problem
       
       > Kopftuchverbote für Lehrerinnen sollen bald nur noch im Einzelfall
       > möglich sein. Die Opposition sieht darin eine Hintertür für weitere
       > Diskriminierung.
       
   IMG Bild: Rechtsstreit mit langer Geschichte: Journalist*innen und eine Anwältin am Berliner Arbeitsgericht im Jahr 2018
       
       Berlin taz | Die Berliner Grünen und Linken kritisieren die geplante
       Änderung des Neutralitätsgesetzes als Mogelpackung. An der rechtlichen
       Unsicherheit für Kopftuch tragende Lehrerinnen werde sich nichts ändern,
       sagte die Sprecherin für Antidiskriminierung der Grünen-Fraktion, Tuba
       Bozkurt, der taz. Denn es bleibe unklar, was genau unter einer konkreten
       Gefährdung des Schulfriedens oder Verletzung der staatlichen Neutralität zu
       verstehen ist. „Durch diese Hintertür könnte die Schulaufsicht jederzeit
       einer Lehrerin kündigen, es gibt keine Rechtssicherheit für muslimische
       Frauen.“
       
       So sieht es auch ihre Kollegin von der Linken, Elif Eralp. „Diese
       Minimallösung ist eine Enttäuschung für Musliminnen aus Sicht von
       Antidiskriminierungspolitik.“ Ein Verbot sei im Einzelfall weiter möglich,
       „obwohl eine Gefährdung des Schulfriedens nicht vom bloßen Tragen eines
       Kopftuchs ausgehen kann“.
       
       Schwarz-Rot hatte am Wochenende unter anderem beschlossen, das Berliner
       Neutralitätsgesetz an höchstrichterliche Rechtsprechung anzupassen. Es
       solle künftig nur noch greifen, „wenn aufgrund objektiv nachweisbarer und
       nachvollziehbarer Tatsachen eine hinreichend konkrete Gefährdung oder
       Störung des Schulfriedens oder der Neutralität des Staates belegbar ist“.
       Eine Entscheidung darüber „trifft die Schulaufsichtsbehörde auf Grundlage
       einer verhältnismäßigen Einzelfallprüfung“, formulierten die
       Fraktionsspitzen von CDU und SPD.
       
       Bisher verbietet das Gesetz das Tragen religiös konnotierter Kleidung für
       Lehrer – außer an Berufsschulen – sowie für Polizisten und
       Justizangestellte. Dieses Verbot hatten das Bundesverfassungsgericht
       (BVerfG) [1][im Jahr 2015] sowie das Bundesarbeitsgericht (BAG) [2][im Jahr
       2020] zumindest für Lehrer*innen für verfassungswidrig erklärt, da es die
       Religionsfreiheit verletze.
       
       Das bloße Tragen religiöser Kleidung sei an sich kein Hinweis auf eine
       Missachtung der staatlichen Neutralität, so die Richter. Für ein Verbot
       müsse eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens im Einzelfall nachweisbar
       sein. Wie genau dies aussehen könnte, hatten die Gerichte nicht erklärt.
       
       In der Praxis ging es bisher fast immer um Lehrerinnen mit islamischem
       Kopftuch, verboten sind in Berlin aber auch Kippa, Turban oder Habit. Auch
       die erwähnten Gerichtsurteile kamen durch Klagen von Kopftuch tragenden
       Lehrerinnen zustande. Ein erstes [3][BVerfG-Urteil von 2003] zu Lehrerinnen
       mit Kopftuch war überhaupt der Grund, das Neutralitätsgesetz in Berlin 2005
       einzuführen.
       
       Juristisch bewegt sich Berlin spätestens seit dem BAG-Urteil von 2020 auf
       wackeligem Grund. Nach langem Zögern und einer [4][verlorenen Beschwerde
       vor dem BVerfG Anfang 2023] schrieb die Bildungsverwaltung [5][im März 2023
       in einem Rundschreiben] an die Schulen, das Neutralitätsgesetz werde bei
       Lehrerinnen nicht mehr angewandt. Vereinzelt wurden seither tatsächlich
       „Kopftuch-Lehrerinnen“ eingestellt, aber laut der Claim-Allianz, einem
       zivilgesellschaftlichen Bündnis gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit,
       wurde mindestens in einem Fall die Bewerbung einer Frau mit Verweis auf ihr
       Kopftuch abgelehnt.
       
       Rima Hanano, Co-Geschäftsführerin von Claim, sieht deshalb in der geplanten
       Reform keinen Fortschritt. Sie sagt: „Schulfrieden ist ein unklarer Begriff
       und als Orientierung nicht hilfreich.“ Es bleibe weiter die Frage, was den
       Frieden an einer Schule stört: „Der ungeübte Umgang mit Diversität oder das
       Kopftuch. Ich würde sagen, ersteres.“
       
       ## Forderung nach kompletter Abschaffung
       
       Laut Schwarz-Rot soll die geplante Änderung des Gesetzes der Anpassung an
       die Rechtsprechung und der „aktuell gelebten Berliner Praxis“ dienen.
       [6][Tuba Bozkurt von den Grünen] bezweifelt das. Sie sprach von einem
       „faulen Kompromiss“ zwischen SPD und CDU, der nur suggeriere, dass etwas
       geschieht. Zum einen sei die Formulierung „hinreichend konkrete Gefährdung
       des Schulfriedens“, die auf „objektivierbare Tatsachen“ gestützt werden
       soll, eine „Gummiformel“. Zum anderen seien die bezirklichen
       Schulaufsichtsbehörden keine neutrale Instanz, um darüber zu entscheiden.
       
       Grüne und Linke fordern daher ebenso wie Claim weiterhin die komplette
       Abschaffung des Neutralitätsgesetzes. Das Verbot der Überwältigung sowie
       das Gebot der Neutralität würden ohnehin für alle Lehrer*innen gelten,
       sagte Bozkurt. „Ob es befolgt wird, ist nicht an der Kleidung festzumachen,
       sondern am Handeln.“
       
       Das Gleiche gelte auch für Polizisten und Justizangestellte, die beiden
       anderen vom Neutralitätsgesetz betroffenen Berufsgruppen. Linke und Grüne
       wollen sie ebenfalls vom Verbot befreit wissen, „damit alle Menschen die
       gleichen Berufszugänge haben und sich die Vielfalt Berlins auch in seinem
       öffentlichen Dienst widerspiegelt“, wie Elif Eralp von der Linken sagte.
       
       Die Koalition will dagegen bei Polizei und Justiz alles beim Alten lassen.
       Das sei „auch leicht nachzuvollziehen“, erklärte Martin Matz,
       innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, „wenn man sich konkrete
       Einsatzsituationen der Polizei oder richterliche Entscheidungen vorstellt,
       in denen der von hoheitlichem Handeln betroffene Bürger und die namens des
       Staates tätige Person gut sichtbare Zeichen unterschiedlicher Religionen
       tragen“.
       
       ## Aktueller Fall in Bremen
       
       Dass es anders gehen könnte, zeigt laut Bozkurt ein aktueller Fall aus
       Bremen. Dort wurden im Mai die neuen Anwärter für den Kommissardienst
       öffentlich präsentiert, darunter auch ein Mann mit Sikh-Turban. Ob das ein
       Beleg für die Offenheit der Bremer ist, muss sich aber noch zeigen. Denn
       der bisher in Deutschland einmalige Fall hat an der Weser sogleich eine
       Debatte über Neutralität im Staatsdienst ausgelöst, [7][berichtet das
       Lokalmagazin der ARD] „buten und binnen“.
       
       Zurück nach Berlin: Orkan Özdemir, Sprecher der SPD-Fraktion für
       Antidiskriminierung, hätte sich persönlich auch mehr vorstellen können, wie
       er der taz sagte. Aber man arbeite ja in einer Koalition – und die
       vorliegende Formulierung sei der Kompromiss, der mit der CDU möglich sei.
       „Von mir aus hätte man die Einschränkung, unter welchen Umständen das
       Neutralitätsgesetz in der Schule weiter gilt, ganz streichen können.“
       Schließlich sei auch in anderen Bundesländern mit weiter reichenden
       Regelungen „das Abendland bisher nicht untergegangen“.
       
       Persönlich hätte Özdemir auch kein Problem damit, das Tragen religiöser
       Kleidung für Polizisten und Justizangestellte zu erlauben. „Wir müssen uns
       heute schon fragen, wie zeitgemäß solche Regeln angesichts der
       gesellschaftlichen Entwicklungen noch sind.“ Aber diese Diskussion müsse
       auch in der SPD noch weitergeführt werden.
       
       26 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Religionssymbole-an-Schulen/!5016688
   DIR [2] /Kopftuch-Streit-vor-Gericht/!5710379
   DIR [3] /Kopftuch-Debatte-in-Berlin/!5385943
   DIR [4] /Berliner-Neutralitaetsgesetz/!5909609
   DIR [5] https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-15712.pdf
   DIR [6] /Berliner-Neutralitaetsgesetz/!5895840
   DIR [7] https://www.ardmediathek.de/video/buten-un-binnen-oder-regionalmagazin/bremer-politik-diskutiert-ueber-religioese-symbole-im-polizeidienst/radio-bremen/Y3JpZDovL3JhZGlvYnJlbWVuLmRlL3JhZGlvYnJlbWVuLmRlL29wZW5tZWRpYS8zXzMzMzI0Mi9zZWN0aW9uL3VybjphcmQ6ZXBpc29kZTo1NmNhOWVmMDgzMjliYjY0
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
       ## TAGS
       
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       Gerichte das wiederholt einfordern mussten, ist peinlich für die Politik.