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       # taz.de -- Entscheid des Verfassungsgerichtshofs: Berlin darf autofrei werden
       
       > Schlappe für den Senat: Das Volksbegehren „Berlin autofrei“ ist laut
       > Verfassungsgericht zulässig. Nun ist das Abgeordnetenhaus am Zug.
       
   IMG Bild: Mit einer klaren Mehrheit von 8 zu 1 gibt das Verfassungsgericht „Berlin autofrei“ recht
       
       Berlin taz | Der Andrang im Saal des Berliner Verfassungsgerichts in
       Schöneberg am Mittwochmorgen ist groß. Kurz nach 10 Uhr treten dann die
       neun Richter*innen ans Pult und Gerichtspräsidentin Ludgera Selting
       verkündet: Das [1][Volksbegehren „Berlin autofrei“] ist zulässig.
       
       „Das Verfassungsgericht hat nicht entschieden, ob Berlin autofrei wird“,
       stellt Selting klar. „Sondern ob das Verfahren dazu eingeleitet werden
       kann.“ Und das haben die Richter*innen mit einer deutlichen Mehrheit von
       acht zu einer Stimme bejaht. Als Nächstes muss sich nun das
       Abgeordnetenhaus mit dem Gesetzentwurf beschäftigen.
       
       Vier Monate haben die Abgeordneten dafür Zeit. Lehnen sie ihn ab, startet
       eine zweite Unterschriften-Sammelphase, bei der die Initiative innerhalb
       von vier Monaten Unterschriften von 7 Prozent der Berliner Wahlberechtigten
       sammeln muss, also rund 175.000. Sind sie damit erfolgreich, könnte es 2026
       zum Volksentscheid kommen.
       
       Der Gesetzentwurf sieht vor, dass nach einer Übergangszeit von vier Jahren
       innerhalb des S-Bahn-Rings Privatleute nur noch zwölf Fahrten pro Kopf und
       Jahr unternehmen dürfen – später dann nur noch sechs. Dabei soll es
       zahlreiche Sondergenehmigungen für Wirtschaftsverkehr und besondere Bedarfe
       geben, auch Taxis bleiben erlaubt. 50.000 Unterschriften hatte die
       Initiative im August 2021 für eine autoreduzierte Innenstadt gesammelt.
       
       Die Innenverwaltung hält den Gesetzentwurf für grundgesetzwidrig und hatte
       ihn 2022 [2][dem höchsten Gericht Berlins zur Prüfung vorgelegt]. Und jetzt
       eine herbe Schlappe erlitten.
       
       ## Gesetzentwurf „angemessen und verhältnismäßig“
       
       In allen Punkten widersprach das Gericht der Argumentation des Senats.
       Demnach ist das Vorhaben der Initiative kein Eingriff in die Handlungs-
       oder Eigentumsfreiheit. Schließlich dürfen die Berliner*innen weiterhin
       Autos besitzen – nur eben nicht uneingeschränkt damit fahren. „Es gibt
       keinen Anspruch auf die Alleinnutzung öffentlicher Straßen durch Pkw“, so
       Selting. Die sind schließlich vielfältig nutzbar und nicht dem
       motorisierten Individualverkehr vorbehalten – und nur weil das derzeit so
       ist, muss es nicht so bleiben, stellt das Gericht klar.
       
       Auch das Argument, dass das Land Berlin überhaupt keine
       Gesetzgebungskompetenz dafür besitze, wischen die
       Verfassungsrichter*innen beiseite. Berlin dürfe durchaus einen neuen
       Straßentyp, die autoreduzierte Straße, schaffen. „Es wird neu bestimmt,
       welche Nutzungen zulässig sind, also das ob und nicht das wie“, so die
       Gerichtspräsidentin. Und das ob falle unter das Straßenrecht des Landes –
       und nicht das Straßenverkehrsrecht des Bundes, das das wie regelt.
       
       Eins nach dem anderen zerpflückt das Gericht die autozentrierte
       Argumentation des Senats, und hält fest: Die individuellen Einschränkungen
       durch eine Reduzierung des Autoverkehrs im Zuge des Volksentscheides sind
       zumutbar, da dieser „hochrangige Gemeinwohlziele mit Verfassungsrang“
       verfolgt. Nämlich: Den Schutz von Leben und Gesundheit sowie des Klimas.
       Die vorgesehenen Mittel seien „geeignet und erforderlich“, da aktuell keine
       anderen Maßnahmen diese Ziele erreichen könnten.
       
       Während die Vertreter*innen des Senats das Urteil lieber nicht
       kommentieren wollen, ist die Freude bei den Klimaaktivist*innen groß.
       Das Gericht habe klar gemacht, dass der Gesetzgeber entscheiden kann, wie
       der öffentliche Raum genutzt werden soll, so der Anwalt der Initiative,
       Philipp Schulte. „Es gibt nach der Verfassung kein Grundrecht auf
       hemmungsloses Autofahren. Jetzt kommt der Verkehrsentscheid endlich wieder
       ins Rollen.“
       
       Angesichts der vielen Verkehrstoten und der Klimakrise sei das höchste
       Zeit, findet die Sprecherin von „Berlin autofrei“, Marie Wagner. „Jetzt
       müssen wir die Berliner Verkehrspolitik aus dem Rückwärtsgang herausholen
       und endlich mit der Verkehrswende vorankommen.“ Die Initiative stellt sich
       derweil auf eine weitere Unterschriftensammlung ein. „Wir gehen nicht davon
       aus, dass das Abgeordnetenhaus das Gesetz annehmen wird.“
       
       ## Alle Parteien zeigen sich skeptisch
       
       Danach sieht es auch tatsächlich nicht aus. Neben SPD und CDU zeigen sich
       auch die Berliner Grünen skeptisch. Sie fürchten, „dass Menschen, die
       derzeit noch ein Auto besitzen, sich überrumpelt fühlen“, so die
       Landesvorsitzenden Nina Stahr und Philmon Ghirmai am Mittwoch. „Wir teilen
       einerseits das Ziel, Berlin lebenswerter zu machen, sehen aber andererseits
       den Weg der Initiative kritisch“, hieß es weiter.
       
       Ein weitreichendes Verbot von Autos im Innenstadtbereich könne zu einer
       Polarisierung zwischen Innen- und Außenstadt führen. Die Grünen sprechen
       sich stattdessen für eine Verkehrswende aus, „die alle mitnimmt“: „Der
       Volksentscheid bietet eine Chance, nun einen Prozess zu starten, bei dem
       gemeinsam über die Parteigrenzen hinweg und mit der Initiative zusammen ein
       Konsens in der Verkehrspolitik erarbeitet wird.“
       
       Auch von der Berliner Linken sind kritische Stimmen zu hören. Zwar teile
       man das übergeordnete Ziel, den Autoverkehr zu reduzieren und damit
       Verkehrssicherheit, Luft- und Lärmbelastung zu verbessern sowie Emissionen
       zu reduzieren, so der verkehrspolitische Sprecher Kristian Ronneburg. Man
       wolle jetzt mit der Initiative das Gespräch suchen, wie und mit welchen
       Mitteln dieses Ziel erreicht werden kann. „Dabei gilt es auch kritische
       Punkte wie zum Beispiel den enormen bürokratischen Aufwand der Maßnahmen
       des Gesetzentwurfs zu diskutieren“, so Ronneburg am Mittwoch.
       
       Der Verein Changing Cities freut sich auf die nun folgende „Debatte über
       die besten Wege zur Mobilitätswende“, so Sprecherin Ragnhild Sørensen. Für
       sie liegt der zentrale Hebel im Ausbau der Infrastruktur von ÖPNV, Rad- und
       Fußwegen.
       
       Der Chef des Fußgängervereins Fuss, Roland Stimpel, findet die Idee, Zwang
       gegen das Auto statt Zwang durchs Auto hingegen verständlich: „Nur eine
       Minderheit in der Innenstadt fährt Auto“, so Stimpel, aber sehr viele
       Menschen würden gefährdet, von Lärm und Abgasen gequält, an der Mobilität
       zu Fuß, in Bus und Tram oder auf dem Rad behindert“, so Stimpel. Dennoch
       dürfe man nicht den Autozwang durch Anti-Auto-Zwang ersetzen. Senat,
       Parteien und Volksbegehren sollten stattdessen einen Konsens suchen. „Das
       ist möglich – mit einem Maß an Autoverkehr, das für die Mehrheit der
       Menschen verträglich ist.“
       
       25 Jun 2025
       
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   DIR Marie Frank
       
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