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       # taz.de -- Sozialpolitik in Großbritannien: Labour rudert zurück
       
       > Die Regierung lässt eine Reform fallen, die vor allem Menschen mit
       > Beeinträchtigungen schlechter gestellt hätte. Linke Labour-Abgeordnete
       > hatten rebelliert.
       
   IMG Bild: Der britische Premierminister Keir Starmer gibt eine Erklärung im Unterhaus in London, Großbritannien, ab, 26. Juni 2025
       
       London taz | Die britische Labourregierung ist eingeknickt, einschneidende
       Kürzungen bei sozialen Leistungen, wie ursprünglich geplant, werden nicht
       kommen. Konkret ging es vor allem um sogenannte „Personal Independence
       Payments“, kurz Pips genannt. Pips sind Zusatzzahlungen für Menschen mit
       Beeinträchtigungen, um sie beim Anziehen, Essen oder Transport zu
       unterstützen.
       
       Die Labourregierung wollte die Kriterien für den Erhalt dieser Zuwendungen
       – sie können jährlich bis zu umgerechnet 5.000 Euro pro Person betragen –
       verschärfen. So sollten bis zum Ende der Legislaturperiode umgerechnet 5,4
       Milliarden Euro eingespart werden.
       
       Selbst regierungseigene Berechnungen waren zu dem Ergebnis gekommen, dass
       die Auswirkungen der Reformen viele Betroffene extrem stark belastet
       hätten. So wäre beispielsweise Menschen mit Beeinträchtigungen die
       Möglichkeit genommen worden, weiter zu arbeiten. Zusätzlich wären
       mindestens weitere 50.000 Kinder unterhalb die Armutsgrenze gerutscht.
       
       Noch am Mittwoch gab sich die Regierung unbeugsam. Von den aktuell 411
       Labourabgeordneten hätten wahrscheinlich bis zu 127 gegen die Reform
       gestimmt. Labour verfügt im britischen Unterhaus über eine Mehrheit von 156
       der insgesamt 650 Sitze. Folglich wäre die Abstimmung am Dienstag zu einem
       Desaster für die Regierung geworden und einem Misstrauensvotum
       gleichgekommen bzw. hätte ein solches sogar auslösen können.
       
       ## Über eine Milliarde Soforthilfe
       
       Jetzt also ist die Regierung zurück gerudert. Sie will die Kürzungen bei
       den Pips und anderen Sozialleistungen für 370.000 Empfänger:innen nicht
       wie geplant abändern – 1,76 Milliarden Euro, die jetzt nicht eingespart
       werden können.
       
       Zukünftige potenzielle Empfänger:innen, deren Zahl schätzungsweise bei
       430.000 Personen liegt, werden nicht in den Genuss dieser Zahlungen kommen.
       Etwa 200.000 Personen mit schweren Beeinträchtigungen, die dauerhaft
       arbeitsunfähig sind, bekommen zumindest weiter einen Inflationsausgleich.
       
       Zudem will die Regierung für Sozialhilfeempfänger:innen mit
       Beeinträchtigung sofort über eine Milliarde Euro zur Verfügung stellen, um
       ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.
       
       Denkfabriken sprechen von einer Zusatzbelastung von umgerechnet bis zu 3,64
       Milliarden Euro für den britischen Staatshaushalt. Die britischen
       Sozialhilfeausgaben wachsen stetig, im vergangenen Jahr um 20 Milliarden
       Euro. Die Zahl der Pip-Empfänger:innen steigt derzeit um etwa 1.000
       Personen pro Tag. Bis zum Ende der Legislaturperiode würden die
       Sozialausgaben ohne jegliche Reformen um umgerechnet 35 Milliarden Euro
       anwachsen.
       
       ## Unbeliebtestes Mitglied im Kabinett
       
       Dies erhöht den Druck auf Finanzministerin Rachel Reeves. Sie wird
       womöglich im Herbst die für britische Verhältnisse höchste Steuerlast seit
       den späten 1940er Jahren weiter erhöhen müssen. Dies ist ein äußerst
       riskanter Schritt, denn Labour hatte vor den Wahlen versprochen, „keine
       Steuern für arbeitende Menschen“ zu erhöhen sowie das Wirtschaftswachstum
       anzukurbeln. [1][Reeves, laut einer Umfrage unter Labourgenoss:innen
       das derzeit unbeliebteste Kabinettsmitglied, muss jetzt mehr für
       Verteidigung und das Gesundheitssystem ausgeben].
       
       Deswegen wiederholte die Starmer-Regierung in der vergangenen Woche das
       Mantra, dass das gegenwärtige Sozialhilfesystem unhaltbar sei. Noch beim
       NATO-Gipfel in Den Haag sagte Premierminister Keir Starmer, dass seine
       Regierung für Veränderungen jener Dinge gewählt worden sei, die das Land
       kaputt gemacht hätten. Dies sei der Grund, weswegen seine Regierung die
       Reformen weiterführe. Eine Abgeordnete, Vicky Foxtrot, die den
       Fraktionszwang durchsetzen soll, trat vergangenen Woche aufgrund der
       angekündigten Sozialhilfereformen von ihrem Amt zurück.
       
       Labours Rückzieher ist bereits der dritte binnen der ersten zwölf Monate
       von Starmers Regierung. Ende Mai hatte Labour die im Herbst abgeschafften
       Heizkostenzusatzzahlungen für Rentner:innen wieder eingeführt, nachdem
       vor den englischen Kommunalwahlen an dieser Entscheidung immer wieder
       Kritik laut geworden war.
       
       Dann gab Labour vor knapp zwei Wochen den Forderungen [2][nach einer
       öffentlichen Untersuchung sexueller Ausbeutung junger Frauen durch
       „Grooming Gangs“] nach. Offensichtlich scheint die Parteispitze von Labour
       ihre eigenen Abgeordneten und die Stimmung im Land nicht ganz ernst zu
       nehmen.
       
       ## Unsicheren Zeiten entgegen
       
       Labour liegt weit hinter der rechtspopulistischen Partei Reform UK von
       Nigel Farage zurück. Erst am Donnerstag zeigte eine Umfrage des
       Meinungsforschungsinstituts YouGov, dass, hätte es diese Woche
       Nationalwahlen gegeben, Farages Partei mit 271 Sitzen die Mehrheit im
       Unterhaus erhalten hätte.
       
       Die Zugeständnisse vom Donnerstagabend dürften ausreichen, um die Rebellion
       in der Fraktion einzudämmen, auch wenn manche Hinterbänkler:innen –
       vor allem jene aus der sozialistischen Gruppe – weiter gegen jegliche
       Sozialreformen stimmen werden. Anna Dixon, 2024 neu gewählte Abgeordnete
       und Vertreterin aus Shipley in West Yorkshire, zeigte sich zufrieden, dass
       Pip-Empfänger:innen die Zusatzzahlungen nicht verlieren.
       
       Am Freitagmorgen versuchte Sozialminister Stephen Kinnock den jüngsten
       Rückzieher seiner Partei schön zu reden. Es sei alles ein positiver Prozess
       gewesen. Doch die Rebellion hat die Labourregierung insgesamt geschwächt.
       Sie muss nun mit einer gewissen Unsicherheit bezüglich ihrer Fraktion
       weiterregieren. Gegen welche weiteren Schritte wird sich die Fraktion
       sträuben?
       
       Und so könnten die nächsten vier Jahre lang und mühselig werden.
       Grundsätzlich stellt sich nach wie vor die Frage, wofür die Labourpartei
       heute eigentlich steht. Als Keir Starmer 2020 Parteichef wurde, übernahm er
       Teile des politischen Programms seines Vorgängers Jeremy Corbyn. Doch viele
       Versprechungen lösten sich in Luft auf. Es ist die „rebellische“ Fraktion,
       die Starmer ständig daran erinnert.
       
       27 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /NATO-Gipfel-und-Sicherheit/!6093111
   DIR [2] /Untersuchung-in-Grossbritannien/!6091496
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
       
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