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       # taz.de -- Buch über Putins imperiale Strategie: Da knallen die Sektkorken im Propagandastab des Kreml
       
       > In „Wenn Russland gewinnt“ zeigt Carlo Masala, wie schnell Russland ans
       > Ziel kommen könnte. Sein Szenario ist ebenso dystopisch wie plausibel.
       
   IMG Bild: Amerikanische Fallschirmspringer bei einer Übung in Litauen. Würden sie auch springen, wenn Russland das Baltikum angreift?
       
       Wer sich unsicher oder gar ohnmächtig fühlt, schenkt irren
       Verschwörungserzählungen und haltlosen Erlösungsversprechen eher Glauben.
       Wer, wie die Sozialdemokraten um Ralf Stegner und Rolf Mützenich,
       angesichts des brutalen Kriegs gegen die Ukraine, den Russland ständig
       weiter eskaliert, die Parole „Mehr Diplomatie wagen!“ ausgibt, kann sich
       daher des Beifalls vieler Verunsicherter sicher sein.
       
       Der Wunsch, den Konflikt durch Gespräche zu lösen, ist verständlich. Dass
       dieser Wunsch unrealistisch ist, weil der Aggressor keine Gelegenheit
       auslässt, zu erklären, dass es nichts zu verhandeln gibt, wird erfolgreich
       verdrängt. Man hat sich Erleichterung verschafft. Man schläft besser.
       Währenddessen gehen die russischen Cyberangriffe, Sabotageaktionen und
       Desinformationskampagnen gegen westliche Demokratien unvermindert weiter.
       
       Manchen reicht das Verdrängen des Problems nicht. Teile der Linken und das
       Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) spielen das Spiel der Täter-Opfer-Umkehr.
       Das verspricht nicht nur besseren Schlaf, sondern auch das erhebende
       Gefühl, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen – und natürlich
       Wählerstimmen. Wer Solidarität mit der Ukraine zeigt und die
       Kriegserklärung Putins an den Westen ernst nimmt, ist für sie ein
       „Kriegstreiber“.
       
       Ein größeres Budget zur Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands
       diffamieren Linke und BSW mit dem Begriff „Kriegskredite“. Als
       Kriegskredite wurden 1914 im imperialistischen Deutschen Kaiserreich
       Staatsanleihen zur Finanzierung des Feldzugs bezeichnet, der zum Ersten
       Weltkrieg wurde. Wer heutige Rüstungsausgaben mit diesen Kriegskrediten in
       eins setzt, behauptet, dass wir es beim Krieg in der Ukraine mit einer
       Aggression des Westens gegen Russland zu tun haben – nicht umgekehrt. Da
       knallen die Sektkorken im Propagandastab des Kremls.
       
       So schreibt die Wirklichkeit Tag um Tag Carlo Masalas Buch weiter. „Wenn
       Russland gewinnt“ heißt der schmale, im März erschienene Band. Darin
       entwickelt der Professor für Internationale Politik an der Fakultät für
       Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München
       ein so plausibles wie erschreckendes Szenario, was in den kommenden Jahren
       geschehen könnte – wenn die europäischen Gesellschaften keine
       Gegenstrategien entwickeln und diese auch umsetzen. Masala versteht sein
       Buch als an wissenschaftlichen Maßstäben orientierte analytische
       Handreichung: „In der Regel spielt man Szenarien durch, damit nicht das
       eintritt, was in ihnen beschrieben wird.“
       
       Der dystopische Entwurf des Politikwissenschaftlers beginnt in naher
       Zukunft. Die Ukraine sieht sich aufgrund des Drucks der Großmächte USA,
       China und Russland dazu gezwungen, einem „Friedensabkommen“ zuzustimmen,
       das de facto ihrer Kapitulation gleichkommt. Sie muss 20 Prozent ihres
       Territoriums aufgeben und verpflichtet sich, zukünftig von einem
       Nato-Beitritt abzusehen. Der Öffentlichkeit wird das als „Frieden von Genf“
       verkauft. Westliche Politiker betonen pflichtschuldig, sie würden die
       russisch besetzten Gebiete niemals anerkennen, die Vereinbarung sei nur
       temporär. Doch Russland hat mit der Unterzeichnung dieser
       Kapitulationsurkunde den Krieg gewonnen. Europa ist erleichtert, Links- und
       Rechtspopulisten triumphieren.
       
       Kaum ist der Krieg gegen die Ukraine gewonnen, tritt Wladimir Putin
       zurück. Sein Nachfolger ist ein politisch unbeschriebenes Blatt. Das hat
       den Vorteil, ihn dem Westen als Reformer verkaufen zu können, um ein
       baldiges Ende der Sanktionen gegen Russland zu erreichen. Der Neue im Kreml
       spricht davon, die Beziehungen zur Ukraine zu normalisieren, und greift die
       zentrale Formel von [1][Willy Brandts Ostpolitik] auf: „Zwei Staaten in
       einer Nation.“ Besonders deutsche Sozialdemokraten sind begeistert, wird
       doch ihr in den 1970ern entworfenes und in den 1980ern verfestigtes
       Weltbild bestätigt. Sie wähnen sich in einer neuen Tauwetterperiode.
       
       ## Die Ukraine wird von innen zersetzt
       
       Währenddessen setzt der Kreml seine imperialistische Politik fort,
       russifiziert weiter die annektierten Gebiete und gibt ukrainische Kinder
       zur Adoption nach Russland frei. Die zerstörte und bankrotte Restukraine
       wird derweil von russischen Geheimdiensten und korrupten, prorussischen
       ukrainischen Oligarchen von innen zersetzt. Bei den ukrainischen
       Parlamentswahlen erreichen prorussische Kräfte eine Mehrheit. Präsident
       Selenskyj kündigt vorgezogene Präsidentschaftswahlen an und verliert.
       
       Westeuropa wähnt sich dennoch in Sicherheit, Kritiker von höheren
       europäischen Verteidigungsausgaben wiederholen nach der Zerstörung der
       Souveränität der Ukraine weiterhin ihr Mantra: Die Nato sei Russland
       konventionell haushoch überlegen. Derweil rüstet Russland weiter auf. Dazu
       befragt, antwortet der neue russische Präsident, „dass es seinem Land, das
       selbstverständlich keinerlei aggressive Absichten gegenüber irgendwelchen
       Ländern hege, erlaubt sein müsse, seine Armee zur Landesverteidigung wieder
       aufzubauen“. An Stellen wie diesen zeigt sich, dass Carlo Masala schwarzer
       Humor nicht fremd ist.
       
       Es kommt, wie es kommen muss. Da nicht die Zerschlagung einer unabhängigen
       und demokratischen Ukraine das langfristige Ziel der russischen Aggression
       war, sondern lediglich eine Etappe, testet Russland erneut die Nato. In den
       frühen Morgenstunden des 27. März 2028 dringen russische Brigaden in die
       estnische Stadt Narwa im Grenzgebiet zu Russland ein. Unterstützt werden
       sie von russischsprachigen Einwohnern, die insgesamt 88 Prozent der
       Stadtbevölkerung ausmachen und zuvor von russischen
       Desinformationskampagnen aufgestachelt, dann mit Handfeuerwaffen und
       Maschinengewehren ausgerüstet worden sind. Zur selben Zeit schlagen als
       Touristen getarnte russische Soldaten auf der estnischen Insel Hiiuma los,
       die von russischen Marineinfanteristen unterstützt werden. Hiiuma ist
       strategisch wichtig, weil die russische Marine nun mit einer Seeblockade
       des Baltikums drohen kann.
       
       Wie würde die Nato auf diesen Test reagieren? Auch diese Antwort fällt so
       plausibel wie düster aus. Russland hat vor seiner Besetzung estnischen
       Gebiets die Kräfte der Nato im Mittelmeer und im Südchinesischen Meer
       gebunden, indem es eine neue Flüchtlingswelle übers Mittelmeer provoziert
       hat, und Russlands Verbündeter China derweil eine philippinische Insel
       besetzt hat.
       
       Der US-amerikanische Präsident verspürt keine Lust, „für Narwa den Dritten
       Weltkrieg zu riskieren“. Die Südeuropäer, die Ungarn, die Slowenen und das
       vom rechtsextremen Rassemblement National regierte Frankreich schließen
       sich ihm an. Der Generalsekretär der Nato muss feststellen, „dass es über
       den Antrag Estlands auf Ausrufung des Artikels 5 keine Einstimmigkeit
       gibt“. Er bittet den estnischen Premierminister, seinen Antrag
       zurückzuziehen. Die Nato wird Estland nicht militärisch beistehen. Russland
       kann einen weiteren Sieg feiern, die Nato hat sich selbst überflüssig
       gemacht. Der neue russische Präsident verkündet im Staatsfernsehen, dass
       Narwa in den Schoß der Nation zurückgekehrt sei, und kündigt außerdem die
       baldige Wiedervereinigung mit Belarus an.
       
       Hier endet Masalas Szenario. Was dieses Ende bedeuten würde, erklärt er im
       Nachwort: „Dann hätte Russland sein Ziel erreicht. Moskau hätte die
       europäische Sicherheitsarchitektur endgültig zerstört.“ Es gebe nur eine
       erfolgversprechende Strategie, dies zu verhindern: „Die Abschreckung des
       russischen Militärpotenzials und die Eindämmung der machtpolitischen
       Ambitionen des Kremls.“
       
       Masala scheint skeptisch zu sein, dass diese Ziele erreicht werden können,
       fehle es doch an gesellschaftlicher Bereitschaft, Russland konsequent
       entgegenzutreten: „Eine Gesellschaft, der nicht bewusst ist, dass ihre Form
       des Zusammenlebens durch hybride Kriegsführung bedroht ist, die nicht
       realisiert, dass Russland durch vielfältige Propagandamaßnahmen und
       Desinformationskampagnen das Vertrauen der Bevölkerung in die
       Problemlösungsfähigkeit demokratischer Institutionen und Verfahren
       erschüttern will, mit dem Ziel, die Demokratie als Staatsform zu
       diskreditieren, wird nicht die Bereitschaft entwickeln, resilient oder
       widerstandsfähig zu werden.“
       
       ## Politthriller auf wahrer Grundlage
       
       Wie weit [2][der hybride Krieg Russlands gegen Deutschland] und Europa
       vorangeschritten ist, kann man täglich in den Nachrichten hören. Zuletzt
       feierten russische Staatsmedien einen Sabotageakt gegen Fahrzeuge der
       Bundeswehr. Die Tatsache, dass Bilder der Fahrzeuge vor und nach dem
       Anschlag gezeigt wurden, lässt kaum einen Zweifel daran, dass dieser im
       Auftrag russischer Geheimdienste begangen wurde. Inzwischen prüfen deutsche
       Sicherheitsbehörden gar, [3][ob die Serie von Messerattacken und
       Terroranschlägen vor der Bundestagswahl Teil der hybriden Kriegsführung
       Russlands] war. Dass Russland die AfD unterstützt, ist bekannt, [4][dass
       die AfD ideologisch den Ideen Putins nahesteht, ebenso.]
       
       Wer wissen will, was uns bevorstehen könnte, wenn der Verbreitung
       russischer Propaganda durch Rechts- und Linkspopulisten nicht
       entgegengetreten wird, sollte dieses Buch lesen. Carlo Masala denkt sich
       nicht nur in westliche Politiker, sondern auch in die Köpfe russischer
       Militärstrategen und Geheimdienstler hinein. „Wenn Russland gewinnt“ zeigt
       daher die Qualitäten eines Politthrillers – auf nur 116 Seiten. Man kann es
       an einem Nachmittag lesen und wünscht sich danach, es wäre nur ein Roman.
       
       14 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
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   DIR [2] /Deutsche-Geheimdienste-warnen/!6039805
   DIR [3] /Russischer-Einfluss-auf-Anschlaege-Der-Verdacht-ist-plausibel/!6081430
   DIR [4] /Buch-ueber-Strategien-von-AfD-und-Putin/!6068257
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
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