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       # taz.de -- Die Wahrheit: Elefantenschenkel in der Schweinekurve
       
       > In jedem Sommer geschieht es wieder: Menschen steigen auf Räder und
       > verschwinden. Nur sehr langsam wächst das Bewusstsein für Pedalophilie.
       
       „Zuletzt fuhr ich 150 Kilometer pro Tag“, erzählt Holger. „Ich habe meinen
       Job verloren, meine Frau hat mich rausgeschmissen, aber ich hatte ja
       Satteltaschen und ein Zelt. Ich war glücklich, solang ich Radfahren konnte.
       Und jemandem davon erzählen. Ich fuhr in dieser Zeit den Oderradweg, den
       Weserradweg, den kompletten Rhein inklusive Moselradweg, den
       Elbe-Elster-Weg, die Bielefeld-Umfahrung, die Oldenburger Schweinekurve mit
       Gegenwind …“
       
       „Sie können jetzt eigentlich gehen“, raunt uns der Pfleger zu. „Er wird
       nicht mehr aufhören.“ Er führt Holger zurück ins Reha-Zimmer. „Schön … toll
       … nette Landschaft da“, kommentiert er lustlos, denn Holger hört ohnehin
       nicht zu. Er ist, wie man hier sagt, „auf Tour“ – einem tranceähnlichen
       Zustand aus Heldenerzählung und Kilometerstatistik.
       
       Holger ist kein Einzelfall. Immer mehr Menschen leiden an fehlender
       Antriebsimpulskontrolle mit motorischer Überaktivität, kurz einer
       krankhaften Pedalophilie, auch „Radabhängigkeit“ genannt.
       
       Nele Neuwirth ist Suchtpsychologin an der Uniklinik Hannover: „Es ist eine
       Wohlstandserkrankung, aber eindeutig eine Sucht. Betroffen sind überwiegend
       Männer Ü40.“
       
       Midlifecrisis per Drahtesel? „Schon irgendwie. Die Betroffenen stammen aus
       dem eher progressiven Milieu, die kaufen sich keine Harley Davidson. Aber
       ein teures Trekkingbike fürs Radwandern halt schon. Doch der Impuls ist
       derselbe: Es sind meist Männer, die beruflich angekommen sind in den
       Sackgassen ihrer Karriere. Das Radfahren ist die einzige Chance, noch mal
       vorwärtszukommen im Leben. Deswegen gehört das notorische Darüber-Reden
       genauso zum Krankheitsbild wie das Fahren selbst.“
       
       Wir besuchen die „Angehörigengruppe Pedalophilie-Betroffener“, die sie
       betreut: sechs Frauen im mittleren Alter und ein Mann. Sie alle haben ihre
       Lebenspartner ans Fahrrad verloren. Ihre Geschichten ähneln sich: „Anfangs
       waren es noch Radtouren mit der Familie. Vati immer vornweg. Erst machten
       die Kinder schlapp, dann ich“, erzählt Birgit. „Er fuhr einfach weiter. Als
       Letztes erhielten wir von ihm ein Selfie vom Nil-Kapstadt-Radweg.“
       
       „Erst radelten wir noch zu zweit“, erzählt Mark von seinem Freund.
       „Besichtigten Wasserschlösser, kehrten irgendwo auf einen Erdbeerbecher mit
       Sahne ein. Dann wurde ich ihm zu langsam, und jetzt fährt er nur noch
       allein. Nicht unter 120 Kilometer pro Tag. Seit drei Jahren geht das so.
       Beim Sex soll ich seine Waden streicheln. Doch ich will das nicht, er hat
       inzwischen Schenkel wie ein Elefant.“
       
       Die anderen in der Gruppe nicken mitfühlend. Hilke flüstert: „Mein Mann hat
       neulich beim Sex zu mir gesagt: ‚Guck mal, ich kann sogar freihändig.‘“
       Gekicher im Raum, Sabine wirft ein: „Wenn meiner keinen hochkriegt, sagt
       er, er habe einen Platten.“ Das Lachen befreit, obschon sie alle hier
       wissen: Ihre Partner sind ziemlich schwer gestört.
       
       Sabine geht mit ihrem Georg inzwischen zur Paartherapie. Zu einer der
       Sitzungen in Hildesheim dürfen wir sie begleiten. Wieso Hildesheim, wundern
       wir uns, gab’s näher keinen Therapieplatz?
       
       „Doch“, seufzt Sabine. „Aber die Strecke sei so schön, sagt Georg.“ Sie
       selbst nimmt den RE, ihr Mann den Leine-Heide-Radweg. „Wenig Steigungen und
       gut ausgebaut. Da komm ich superentspannt in der Therapie an.“
       
       „Er kann nicht zwei Sätze sagen, ohne aufs Radfahren zu kommen“, beklagt
       sich Sabine in der Sitzung. „Stimmt nicht!“, widerspricht Georg. „Mit
       Frieder auf dem Elberadweg, da haben wir zwei Tage über andere Sachen
       geredet: Verkehrspolitik zum Beispiel.“
       
       Die Therapeutin nickt. „Georg, merken Sie es selbst?“
       
       „Was soll ich gemerkt haben? Wenn mir ’ne Wespe untern Fahrradhelm fliegt,
       das merke ich! Was hab ich jetzt schon wieder falsch gemacht?“
       
       „Es ist so schlimm“, beklagt sich Sabine, „ich weiß inzwischen mehr über
       den Zustand des Radwegs zwischen … was weiß ich, Stendal und Uelzen, aber
       nicht, wie es meinem Mann geht!“
       
       ## Lange Passagen Gravelroad
       
       „Was sagen Sie dazu, Georg?“ Georg braust auf: „Was soll ich dazu sagen?
       Kopfsteinpflaster und lange Passagen Gravelroad – wie geht’s mir da wohl?!“
       Sabine verdreht die Augen, die Therapeutin seufzt und bittet uns, lieber zu
       gehen. Das wird heute eine holprige Strecke mit Gegenwind.
       
       „Es ist pure Eifersucht auf sein Fahrrad!“, gesteht Hilke der Gruppe. Sie
       probierte es mit Sabotage, verbog Speichen, ihr Mann Stefan wechselte sie
       aus. „Nicht ohne stundenlang zu lamentieren, bei welcher Aktion sie sich
       verbogen haben könnten: beim Ausweichmanöver vorm Traktor auf dem Werraweg
       oder beim Unfall mit dem Dachs auf dem Jamelner Grützenkurs?“ Hilke
       versenkte sein Rad im Maschsee. „Sinnlos! Drei Wochen jammerte Stefan! Dazu
       all die Überlegungen zur Wiederbeschaffung! Jedes Essen: Pasta mit
       Schutzblechen, Erbsensuppe mit Schnellspannern!“ Das neue Rad parkt nun im
       Ehebett, Hilke zog in die Garage.
       
       Schätzungen zufolge gehen 40 Prozent der in Gewässern verklappten Drahtesel
       auf das Konto von Pedalophilie-Angehörigen: zu oft werden unversehrte
       Trekkingbikes mit reisebereiten Satteltaschen geborgen.
       
       „Ich dachte mal, im Winter geht’s“, klagt Hilke. „Aber bis Weihnachten
       schwelgte Stefan in Erinnerungen an seine letzten Touren, ab Heiligabend
       plante er die neuen. Dabei hatten wir weiß Gott wichtigere Themen! Unsere
       Tochter outete sich als trans. Stefan inspirierte das nur zur
       Trans-Balkon-Route.“ Sie seufzt. „Ich glaube, er sieht in uns nur noch
       Fußgänger.“
       
       Die anderen in der Gruppe nicken verständnisvoll. Birgit sagt: „Unsere
       Kinder kennen ihren Vater nur noch in bunten Lycra-Höschen.“
       
       Nele Neuwirth berichtet von einem besonders schweren Fall aus Vermont. Dort
       habe ein Mann so viel vom Radfahren erzählt, dass seiner Frau aus den Ohren
       Kettenöl blutete. „Was meinen Sie, was er da tat?“ Wir zucken mit den
       Schultern. „Er holte die Fahrradkette und ölte sie. Erst dann fuhr er seine
       Frau zum Arzt – im Fahrradanhänger.“
       
       Die Therapie Pedalophiler ist kaum erforscht. „Ihnen das Fahrrad
       wegzunehmen, erleben sie als Amputation“, weiß Neuwirth, „aber Schotter und
       schlechte Wegstrecke helfen.“
       
       Holgers Rehaklinik in Notingbostel erreicht man nur über 15 Kilometer
       Kopfsteinpflaster. Mehr als fünf Kilometer hat Holger nie geschafft, dann
       trug er sein geliebtes Rad zurück ins Zimmer. Auf dem langen Weg zur
       Heilung braucht es noch viele kurze Wege.
       
       12 Jul 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Volker Surmann
       
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