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       # taz.de -- Skrupellosigkeit in der Politik: Moralische Schlüsse sind zulässig
       
       > Der Appell an die geteilte Welt wird von rechten Kulturkämpfern als
       > Moralismus abgetan. Angesichts von Amtsmissbrauch und Korruption ist
       > Moral aber notwendig.
       
   IMG Bild: Steckt Gott in einer Apfelsinenkiste? Und was hat das mit Moral zu tun?
       
       Von den vielen Argumenten, warum es vermutlich keinen Gott gibt, finde ich
       das mit der Apfelsinenkiste besonders gut. Der Philosoph Bertrand Russell
       hat es geprägt und es geht so: Die Idee von einem Gott, der ausgleichende
       Gerechtigkeit schafft, ist ungefähr so schlüssig, wie wenn ich beim Öffnen
       einer Apfelsinenkiste sehe, dass die oberste Lage vergammelt ist, und
       dennoch annehme, dass die unteren Lagen wohl in Ordnung seien.
       
       An diesem Gleichnis gefällt mir die freundliche Aufforderung, angesichts
       von Schimmel und Ungenießbarkeit sich nicht in Wunschvorstellungen (ein
       weiser, höherer Plan, eine gütlich fügende Hand) zu flüchten, sondern doch
       bitte Logik oder mindestens Lebenserfahrung walten zu lassen. Hinter
       Fäulnis steckt selten schönste, beste Ordnung. Sondern vermutlich ebenfalls
       Fäulnis. Darin steckt auch eine Ermunterung: Moralische Schlüsse sind
       zulässig, trau sie dir zu.
       
       Womit ich bei Jens Spahns Maskendeals angekommen wäre. Gegen ihn wird sich
       in der Union vermutlich erst etwas regen, wenn die Bild-Zeitung einsteigt,
       die das aber nicht tun wird, [1][weil sie (noch) zu seinen Buddys zählt].
       Solange bloß Opposition und seriöse Medien alle Hinweise auf Amtsmissbrauch
       als Hinweise auf Amtsmissbrauch werten, dient dies bei CDU und CSU eher der
       Selbstvergewisserung: Wir sind so mächtig, dass wir sogar diesen Skandal
       aussitzen – und die Souveränität, in der wir das machen, festigt unsere
       Macht sogar noch. Es ist Skrupellosigkeit als Regierungsform.
       
       Manche sind nun alt genug, sich an Franz Josef Strauß zu erinnern, und
       wissen, dass in Sachen [2][Freunderlbewirtschaftung die alte
       Bundesrepublik] nicht besser war. Heute werden immerhin auch Frauen
       begünstigt, sofern sie Tochter-von-jemand sind: [3][Andrea Tandler,
       Tochter] des früheren bayerischen Finanzministers Gerold Tandler (CSU), hat
       mit rund 50 Millionen Euro in der Masken-Sache einen ordentlichen Schnitt
       gemacht.
       
       Für Beobachterinnen stellt sich angesichts des Fortgangs der Maskenaffäre
       eine vertraute Frage: Wie viel Moral sollte ich zur Beurteilung der
       Sachlage anwenden? Linke haben gelernt, dass Moral bei der Beschreibung
       ungerechter Verhältnisse oft genug eher im Wege steht als zu helfen. Wer
       den Kapitalismus beschreiben will, hält sich besser nicht mit Benimmfragen
       auf, sondern übt die kühle Analyse. Es sind eher Konservative, die zum
       Beispiel Umverteilungsforderungen gern mit der Beschwörung moralischer
       Werte abwehren.
       
       Doch ist etwa im Kampf ums eigene Selbstverständnis, den die
       Trump-GegnerInnen in den USA führen – „Trump: Wie konnte das passieren?“ –,
       die Moral als Kategorie zurückgekehrt. Wie kann es sein, dass halb Amerika
       Trump nicht moralisch abstoßend findet?, [4][fragte kürzlich The Atlantic,
       ] und antwortete mit einem Moralphilosophen, der erklärt: Wenn
       Individualismus Ziel und Zweck einer Gesellschaft ist, muss sich niemand
       wundern, dass das blanke „Ich will“ zur herrschenden Norm wird – und Donald
       Trump zum Vorbild.
       
       Entsprechend verspotten rechte Kulturkämpfer die alte Geschichte von der
       gemeinsam geteilten Welt samt Rücksicht und Gegenseitigkeit und alldem auch
       als „Moralismus“. Ein [5][kluger Politikwissenschaftler beschrieb] die
       Masche in der Frankfurter Rundschau jüngst als „Moralismuskeule“: Der
       Moralismusvorwurf soll jede Forderung nach Klimaschutz,
       Gleichberechtigung, Verantwortungsübernahme usw. entmächtigen, nennt sie
       hysterisch und vielleicht sogar boshaft.
       
       Die Apfelsinenkiste ist aber offen, und es sieht darin nicht gut aus.
       Korruption stinkt. Moral gehört in die Politik, und womöglich wird es Zeit,
       moralische Urteile wieder zu pflegen und etwas ernster zu nehmen.
       
       12 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bild.de/politik/inland/kommentar-waren-die-masken-wirklich-der-grosse-corona-skandal-686e48e9e2cff87644c819dd
   DIR [2] https://www.br.de/nachricht/inhalt/strauss-serie-dienstag-100.html
   DIR [3] /Tandler-Prozess-in-Bayern/!5961210
   DIR [4] https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2025/07/trump-administration-supporters-good/683441/
   DIR [5] https://www.fr.de/politik/wem-nuetzt-die-moralismus-keule-93826210.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Winkelmann
       
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