URI: 
       # taz.de -- Konflikt zwischen Kurden und Erdoğan: Demokratie unter Zwangsverwaltung
       
       > Neslihan Şedal sollte Bürgermeisterin der kurdisch geprägten Stadt Van
       > sein, wurde aber von der Regierung abgesetzt. PKK-Entwaffnung lässt sie
       > hoffen.
       
   IMG Bild: Eine Gruppe kurdischer „Mütter für den Frieden“ nimmt an einer Protestaktion in Van teil, Türkei, am 2.4.2024
       
       Van taz | Neslihan Şedal steht im Hof des DEM-Parteihauses im Zentrum von
       Van. Über ihr wehen Fahnen in Grün, Blau und Violett im Wind, auf ihnen ein
       stilisierter Baum, das Symbol der prokurdischen Partei DEM, der Partei für
       Gleichheit und Demokratie der Völker. Auf dem gepflasterten Platz ist es
       ruhig, Holzbänke laden zum Sitzen ein, Schatten fällt durch die Äste der
       Bäume.
       
       „Hier ist jeder willkommen“, sagt Şedal lächelnd. 2024 wurde Şedal
       gemeinsam mit Abdullah Zeydan zur Ko-Bürgermeisterin von Van gewählt. Die
       DEM gilt als Nachfolgeorganisation der HDP und versteht sich als
       pluralistisch, feministisch und basisdemokratisch. Die HDP war lange Zeit
       die wichtigste politische Vertretung der kurdischen Bevölkerung in der
       Türkei. Ihr Ziel: die politische Vertretung all jener gesellschaftlichen
       Gruppen, die in der Türkei bislang marginalisiert oder unterdrückt wurden.
       
       Doch am 15. Februar wurden Şedal und Zeydan von der Zentralregierung
       abgesetzt. Sie setzte stattdessen einen Zwangsverwalter ein. Es war nicht
       das erste Mal.
       
       Dabei könnte man meinen, die Zeichen stehen auf Frieden zwischen den Kurden
       und der Türkei. Im nordirakischen Sulaimaniyya verbrannte die PKK am
       Wochenende symbolisch ihre Waffen – ein Ereignis, das in der Türkei
       vielfach als historischer Moment gewertet wurde. Die DEM-Partei agiert als
       politische Vermittlerin zwischen der Regierung und der PKK. Präsident Recep
       Tayyip Erdoğan reagierte mit einer Rede in Ankara und sprach von einem
       „neuen Abschnitt des Friedens“.
       
       ## Kein Frieden in Van
       
       „Der Staat der Republik Türkei steht aufrecht – heute ehrenvoller als
       gestern und mit mehr Stolz auf seine Zukunft“, sagte er: „Der Türke ist
       heute sicherer als gestern. Der Kurde, der Araber ist heute sicherer als
       gestern. Die wir verloren haben, kehren nicht zurück – aber unsere
       Jugendlichen werden uns nicht mehr entrissen werden, unsere Mütter werden
       nicht mehr weinen.“
       
       In Van jedoch, unweit der Grenze zum Iran, ist von einem solchen Frieden
       wenig zu spüren.
       
       Betritt jemand den Hof vor der Parteizentrale, grüßt Şedal mit einem
       freundlichen Nicken. Sie schüttelt Hände und lächelt. Obwohl sie offiziell
       kein Amt mehr hat, ist sie hier präsent – nicht in ihrer Funktion, sondern
       als Person. „Wir haben als Volk gewählt – und sie haben unseren Willen
       enteignet“, sagt sie. Was wie ein Verwaltungsakt erscheine, sei in
       Wirklichkeit politisch motiviert: „Es ist ein Eingriff in die lokale
       Demokratie.“
       
       Das sogenannte Kayyum-System – der Begriff bedeutet auf Türkisch so viel
       wie „Zwangsverwalter“ – ist rechtlich nicht neu. Ursprünglich stammt das
       Prinzip aus dem Zivil- und Handelsrecht und wurde dort zur Verwaltung
       insolventer Firmen, bei Erbschaften oder für Personen, die als
       geschäftsunfähig gelten, angewendet.
       
       ## Wo Beteiligung nicht nur ein Versprechen sein soll
       
       Seit 2005 erlaubt das Kommunalgesetz unter bestimmten Bedingungen auch die
       Einsetzung von Zwangsverwaltern in der Kommunalverwaltung – etwa bei
       Terrorvorwürfen. Nach dem Putschversuch gegen Erdoğan im Juli 2016 wurde
       daraus ein systematisches politisches Instrument.
       
       Gerade vor diesem Hintergrund gewinnt das Modell, das Şedal gemeinsam mit
       Abdullah Zeydan in Van aufgebaut hatte, besondere Bedeutung. Es stand für
       ein anderes Verständnis von Verwaltung. „Wir wollten eine Verwaltung, in
       der Beteiligung nicht nur ein Versprechen ist. Kommissionen, Stadtteilräte,
       offene Entscheidungsprozesse – das war unser Ziel.“
       
       Für Şedal ist Kommunalpolitik mehr als Infrastruktur: „Wir verstehen die
       Kommunalverwaltung als Teil des gesellschaftlichen Befreiungskampfes –
       insbesondere für Frauen.“ Ein zentrales Element dieses Ansatzes war das
       sogenannte Eşbaşkanlık – das Modell des Ko-Vorsitzes, bei dem jeweils eine
       Frau und ein Mann gemeinsam Verantwortung tragen.
       
       Diese Praxis, inspiriert von der kurdischen Frauenbewegung, soll
       patriarchale Machtstrukturen aufbrechen und politische Gleichberechtigung
       garantieren. „Wir reden nicht nur über Frauenrechte – wir organisieren
       Politik strukturell anders“, sagt Şedal. „Nicht symbolisch, sondern
       systematisch.“
       
       ## Schutzräume für Frauen wurden zerstört
       
       In Van habe man versucht, gesellschaftliche Gruppen wie Frauen, ältere
       Menschen oder Menschen mit Behinderung aktiv einzubinden – nicht als
       Zielgruppe, sondern als Mitgestaltende. „Unser Ansatz war dezentral,
       transparent und am Alltag der Menschen orientiert.“ Politik, sagt sie,
       dürfe nicht von oben verordnet werden – sie müsse vor Ort entstehen.
       
       Auch die Jin-Karte, mit der Frauen kostenlosen Zugang zu kulturellen
       Angeboten und Hygieneprodukten erhalten sollten, wurde mit dem Einsetzen
       des Zwangsverwalters gestrichen. „Kein einziges dieser Projekte läuft
       weiter“, sagt Şedal. Besonders die Infrastruktur für Frauen sei gezielt
       zerstört worden. „Frauen wurden aus Schutzräumen zurück in Haushalte
       geschickt, in denen sie Gewalt ausgesetzt waren. Das ist keine
       Sparmaßnahme, das ist politische Absicht.“
       
       Van gilt offiziell mit 1,1 Millionen Einwohnern als eine Großstadt, doch
       davon ist wenig zu spüren. Staub liegt in der Luft, nur eine große Straße
       im Zentrum wurde modernisiert. Die Stadt lebt vom iranischen
       Partytourismus. Der Rest ist Stillstand, Migration, Perspektivlosigkeit.
       „Die Jugend verlässt die Region, es gibt keine sichere Zukunft hier“, sagt
       Şedal.
       
       Die DEM-Partei fordert [1][nach der Waffenabgabe der PKK] konkrete
       politische Schritte [2][von Seiten der Regierung in Ankara]: Sie fordert
       nicht nur die sofortige Freilassung von Selahattin Demirtaş, dem seit 2016
       inhaftierten ehemaligen HDP-Vorsitzenden, sondern auch die Absetzung aller
       Zwangsverwalter in kurdischen Kommunen.
       
       ## Hoffnung auf einen neuen Gesellschaftsvertrag
       
       Şedal setzt ihre Hoffnung nun in Berichte, nach denen in Ankara eine
       Verfassungskommission gebildet werden soll, mit dem Ziel, einen neuen
       Gesellschaftsvertrag zu entwerfen. Im Raum stehen weitreichende Reformen:
       verfassungsrechtliche Garantien für kurdische Grundrechte, die Anerkennung
       der kurdischen Sprache, die Rückkehr demokratisch gewählter
       Bürgermeister:innen und ein verbindlicher Rechtsrahmen für politische
       Teilhabe.
       
       „Ohne rechtliche Sicherheit und echte Demokratie wird es keinen Frieden
       geben“, sagt Şedal. „Zu oft wurde der Prozess an parteitaktischen
       Interessen zerschlagen. Diesmal muss es anders sein.“ Şedal richtet ihren
       Blick deshalb auch auf die übrige Opposition. „Wir müssen gemeinsam gegen
       Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit Widerstand leisten – nicht nur wir
       Kurden sollen das tragen“, sagt sie.
       
       Sie erinnert daran, dass etwa die CHP – die
       kemalistisch-sozialdemokratische Oppositionspartei – im Jahr 2016 einer
       Gesetzesänderung zustimmte, die den Weg für die Absetzung von
       HDP-Bürgermeister:innen ebnete. Nichtsdestotrotz sei die DEM solidarisch
       mit der CHP gewesen, [3][als Ekrem İmamoğlu], der CHP-Bürgermeister von
       Istanbul, unter Druck geriet und festgenommen wurde. „Wir haben sie
       besucht. Wir gehen auf sie zu. Aber wir fragen auch: Warum leistet ihr
       keinen Widerstand?“
       
       Für Şedal ist klar: Demokratie ist kein Privileg der Mehrheit, sondern ein
       Versprechen an alle. Sie hält an der Hoffnung fest. Alles andere hieße zu
       kapitulieren.
       
       14 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Aufloesung-der-PKK/!6096269
   DIR [2] /Endgueltiges-Ende-der-PKK/!6096244
   DIR [3] /Millionen-Menschen-gegen-Erdoan/!6077365
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Derya Türkmen
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Kurden
   DIR CHP
   DIR Recep Tayyip Erdoğan
   DIR Feminismus
   DIR GNS
   DIR Türkei
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Ekrem İmamoğlu
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Grenze zwischen der Türkei und Iran: Niemand hat die Absicht, diese Mauer zu kritisieren
       
       Seit mehreren Jahren sichert die Türkei ihre Grenze zu Iran. Über die Toten
       oder die Schleuserkriminalität seitdem reden sie vor Ort nur zögerlich.
       
   DIR Asyl in Deutschland: Schutzquote von Frauen aus der Türkei sinkt deutlich
       
       Mehr Frauen aus der Türkei suchen in Deutschland Schutz, doch die Zahl
       positiver Asylentscheide sinkt. Am schwersten haben es Kurdinnen.
       
   DIR Millionen Menschen gegen Erdoğan: Der Türkei steht ein langer Kampf bevor
       
       Seit Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu inhaftiert wurde, reißt der
       Protest gegen Präsident Erdoğan nicht ab. Auch Künstler sind jetzt laut
       dabei.
       
   DIR Repression unter Erdoğan: Die demokratische Türkei nicht alleinlassen
       
       Die EU wird sich entscheiden müssen, ob sie aus durchsichtigen Motiven
       einen Autokraten unterstützt oder sich wirklich für die Demokratie
       einsetzt.