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       # taz.de -- Rechte Hetze gegen Brosius-Gersdorf: Der lange vorbereitete Feldzug der FundamentalistInnen
       
       > Eine massive Kampagne von christlichen FundamentalistInnen hat die Wahl
       > von Frauke Brosius-Gersdorf vorerst verhindert. Wer genau steckt
       > dahinter?
       
   IMG Bild: Wo gegen das Recht auf Selbstbestimmung mobilgemacht wird, ist die AfD nicht weit: Beatrix von Storch in Berlin, 2019
       
       Berlin taz | Die Aufrufe aus der Anti-Choice-Szene an Politiker*innen
       und Journalist*innen klingen dramatisch und teils wortgleich. „Sie
       werden es nicht für möglich halten“, schreibt etwa die „Aktion SOS Leben“
       Anfang Juli per Mail über die Nominierung [1][der Juraprofessorin Frauke
       Brosius-Gersdorf] zur Verfassungsrichterin: Eine „Ultra-Linke und
       Abtreibungsaktivistin“ sei als Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht
       vorgesehen. Die SPD sei dabei, „einen links-grünen Putsch durchzuführen und
       aus dem Bundesverfassungsgericht eine Zelle linker Agitation zu machen“.
       
       Die Wahl von Brosius-Gersdorf wäre „katastrophal“, heißt es auch in einem
       Brief der Aktion Lebensrecht für alle (ALfA) an Abgeordnete des Bundestags.
       Brosius-Gersdorf, die Mitglied der Expert*innenkommission für die
       Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen war, deute „ganz bewusst“ die
       Verfassung um, um ideologische Ziele zu verwirklichen. So solle manchen
       Menschen – Föten – Grundrechte abgesprochen werden. Ohne Kinder aber habe
       ein „Staat keine Zukunft“.
       
       Die Organisation 1000plus schreibt auf ihrer Website: „Das Unfassbare“ sei
       eingetreten: Brosius-Gersdorf sei nominiert, obwohl sie sich „klar und
       deutlich“ für die Legalisierung von Abtreibung ausgesprochen habe. Und die
       internationale Kampagnenorganisation CitizenGo schreibt, die SPD versuche,
       eine „radikale linke Lebensfeindin“ ins Bundesverfassungsgericht zu
       bringen.
       
       Das wollen die Vereine und Organisationen, die sich gegen
       Schwangerschaftsabbrüche einsetzen, allerdings nicht hinnehmen – und
       liefern die Instrumente, Brosius-Gersdorf zu verhindern, gleich mit. Grün
       hinterlegt ist etwa auf der Seite von 1000plus ein Banner, auf dem steht:
       „Schreiben Sie dem Unions-Abgeordneten Ihres Wahlkreises“.
       
       ## Druck auf Abgeordnete
       
       Die Aktion SOS Leben lädt zum Klick auf eine Petition namens „Nein zu
       Abtreibungsaktivisten im Bundesverfassungsgericht – Nein zu
       Brosius-Gersdorf!“. Auf der Seite von CitizenGo heißt es: „Keine radikale
       Lebensfeindin ins Bundesverfassungsgericht: Stimmen Sie gegen Frauke
       Brosius-Gersdorf!“. Und die ALfA richtet sich per Brief förmlich und direkt
       an die Abgeordneten des Bundestags: „Ich bitte Sie daher dringend, Frau
       Brosius-Gersdorf nicht Ihre Stimme zu geben.“
       
       Die Stimmung, die die Vereine und Organisationen aus der Anti-Choice-Szene
       gegen Brosius-Gersdorf gemacht haben, [2][zeigte bekanntermaßen Wirkung] –
       flankiert noch durch Hetze etwa der AfD-Bundestagsabgeordneten Beatrix von
       Storch. Die behauptete bei der Generaldebatte im Bundestag vergangene
       Woche, Brosius-Gersdorf spreche einem neun Monate alten Fötus keine
       Menschenwürde zu. Auf „Nius“, dem rechten Portal des ehemaligen
       Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt, sind seit Anfang Juli mehr als 20
       Texte erschienen, die gegen die „Richterin des Grauens“ mobilmachten.
       
       Bei Redaktionsschluss stand die Petition auf CitizenGo bei 146.000
       Unterschriften. 37.000 E-Mails, so die Organisation 1000plus, seien an
       Unionsabgeordnete versandt worden. „Sie haben es geschafft!“, jubelt
       deshalb der Vorsitzende Kristijan Aufiero, nachdem die Wahl der
       RichterInnen am Freitag abgesagt wurde, obwohl sich die Koalition zuvor
       darauf verständigt hatte: Die Unionsfraktion habe angekündigt,
       Brosius-Gersdorf nicht zu wählen.
       
       Aufiero, das am Rande, war im Februar als Sachverständiger für die AfD
       [3][bei einer Anhörung im Rechtsausschuss zu Schwangerschaftsabbrüchen
       geladen]. Und auf CitizenGo heißt es: Dass die Wahl von Brosius-Gersdorf
       verhindert worden sei, sei „ein großer Sieg für den Lebensschutz für die
       nächsten zwölf Jahre“.
       
       Die konzertierte Kampagne gegen Brosius-Gersdorf ist kein Zufall.
       Ultrakonservative ChristInnen, die mit der autoritären und extremen Rechten
       gemeinsame Sache machen, [4][arbeiten seit Jahren] an einem Rollback von
       Frauenrechten und Rechten von LGBTIQ in Europa.
       
       ## Finanzstarkes Netzwerk
       
       Erst Ende Juni hatte ein progressiver Thinktank, das Europäische
       Parlamentarische Forum für sexuelle und reproduktive Rechte (EPF), einen
       Bericht namens [5][„Die nächste Welle“] vorgelegt. Darin beschreibt
       EPF-Geschäftsführer Neil Datta ein weit verzweigtes Netzwerk, dem unter
       anderem AktivistInnen der sogenannten Lebensschutzszene, religiöse
       ExtremistInnen, extrem rechte PopulistInnen und AristokratInnen angehören,
       teils enorm finanzkräftig.
       
       Zwischen 2019 und 2023, so der EPF-Bericht, wurden von 275 Organisationen
       Mittel in Höhe von fast 1,2 Milliarden Dollar aufgebracht, die in Europa an
       Anti-Gender-Initiativen beteiligt waren – also solchen, die gegen
       Schwangerschaftsabbrüche und Rechte von LGBTIQ sowie gegen
       Geschlechtergleichheit mobilmachen. Den AktivistInnen, so das EPF, gehe es
       darum, „Jahrzehnte von hart erkämpften sexuellen und reproduktiven Rechten
       in ganz Europa zu demontieren“.
       
       Eine Organisation, deren Name dabei immer wieder fällt, ist CitizenGo –
       eine derjenigen also, die auch gegen Brosius-Gersdorf mobilmachen.
       
       CitizenGo ist nicht irgendeine Plattform. Schon 2013 schreibt der spanische
       Anti-Abtreibungs-Aktivist Ignacio Arsuaga, Gründer von CitizenGo: Die
       Plattform solle „die einflussreichste internationale christlich inspirierte
       Mobilisierungswebsite“ werden. Eine, die „nationale Regierungen, Parlamente
       und internationale Institutionen effektiv beeinflusst“. Über die Dokumente,
       in denen Arsuaga das schrieb, zudem über Adresslisten, Finanzberichte und
       Strategiepapiere von [6][CitizenGo berichtete die taz bereits 2021], sie
       liegen ihr vor.
       
       ## Das Gute und das Böse
       
       Rechtlich ist CitizenGo eine in Spanien eingetragene Stiftung. Sie setzt
       sich ein für „Leben, Familie und Freiheit“, so steht es auf der Website.
       Intern ist die Darstellung martialischer: Die Organisation sieht sich in
       einem Kulturkampf, zwischen der Kultur des Lebens und der des Todes, Gut
       gegen Böse. Das Böse sind für CitizenGo unter anderem Menschen, die sich
       für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche einsetzen – das Gute sind die
       „wahren“ ChristInnen, die den Kampagnen der globalen Linken etwas
       entgegensetzen. Deshalb will CitizenGo „eine Generation von konservativen
       Führern“ aufbauen, national und international.
       
       Der Aktivismus von CitizenGo hat sich seit 2013 deutlich
       professionalisiert. Dabei nutzt die Organisation Daten von
       FundamentalistInnen und LGBTIQ-GegenerInnen als Währung, knüpft Kontakte zu
       rechtsextremen Parteien und nimmt immer mehr Einfluss – unter anderem auf
       das Europäische Parlament. Dort erinnert eine Aktion von CitizenGo schon
       Ende 2013 frappierend an die konzertierte Kampagne gegen Brosius-Gersdorf
       im Juli 2025.
       
       Damals sollte nicht das deutsche, sondern das Europäische Parlament
       abstimmen, nicht über eine Richterin, sondern über ein Papier: eines, in
       dem sich das EU-Parlament dazu bekennt, dass allen Europäer*innen der
       Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und Sexualaufklärung zusteht. Dreimal
       steht das Papier zur Entscheidung, dreimal wird es abgelehnt – eine herbe
       Niederlage für viele Sozialdemokrat*innen, Linke und Liberale im
       EU-Parlament.
       
       Die Strategie, mit der CitizenGo damals vorging, hat sich bewährt:
       Christlich-fundamentalistische und rechte AktivistInnen fluten die Post-
       und E-Mail-Eingänge von Abgeordneten mit Mails und Petitionen, innerhalb
       kürzester Zeit sammeln sie Unterschriften. Bis 2013 ist eine solche
       Mobilisierung für die europäische Rechte beispiellos. Heute übernehmen die
       Strategie von CitizenGo längst Vereine und Organisationen wie ALfA,
       1000plus und Aktion SOS Leben.
       
       ## Jens Spahn: Mittendrin statt nur dabei
       
       Das Thema Geschlechterpolitik funktioniert dabei als Scharnier. Es ist zum
       einen anschlussfähig an die gesellschaftliche Mitte, zum anderen Kernthema
       der Rechten. Rechte Politik ist ohne die Kontrolle weiblicher Körper nicht
       denkbar, schließlich geht es dabei auch um Reproduktion von Bevölkerung, um
       eine „Willkommenskultur für Kinder“, wie etwa die AfD in ihrem Wahlprogramm
       schreibt – deutsche Kinder, versteht sich.
       
       Dabei erinnert der Kampf um die Besetzung von RichterInnenposten an die
       USA, wo US-Präsident Donald Trump in seiner ersten Amtszeit
       ultrakonservative RichterInnen für den Obersten Gerichtshof ernannte.
       Dieser kippte in der Folge 2022 in einem Grundsatzurteil das Recht auf
       Schwangerschaftsabbruch im Land. Auch hierzulande, [7][so der Soziologe]
       und Antifeminismus-Experte Andreas Kemper, versuche die Bewegung, die
       eigenen Ziele über konservative und rechte RichterInnen zu flankieren – und
       liberale RichterInnen zu verhindern.
       
       Fraktionschef Jens [8][Spahn musste in den vergangenen Tagen viel Kritik]
       dafür einstecken, die Stimmung in der Fraktion entweder [9][falsch
       eingeschätzt oder seine Fraktion nicht im Griff zu haben], vielleicht auch
       beides. Interessant dabei ist allerdings auch Spahns eigene Positionierung
       zu Schwangerschaftsabbrüchen.
       
       2019 hatte er als Gesundheitsminister eine Studie in Auftrag gegeben, die
       zunächst „die seelischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen“ untersuchen
       sollte. Dieses sogenannte „Post-Abortion-Syndrom“ behauptet etwa, dass
       Frauen von Abtreibungen krank werden, zum Beispiel schwere Depressionen
       bekommen. Es gilt als Erfindung der US-amerikanischen Anti-Choice-Bewegung
       aus den 1980ern Jahren und ist wissenschaftlich längst widerlegt.
       
       Im Januar 2020 [10][postete zudem die Vorsitzende der ALfA], Cornelia
       Kaminski, die nun Stimmung gegen Frauke Brosius-Gersdorf macht, ein Foto
       auf Facebook. Man sieht Kaminski dort eng neben Jens Spahn stehen, beide
       lächeln freundlich-beschwingt in die Kamera.
       
       Während sich das Gesundheitsministerium damals nicht zu „einzelnen Fotos“
       äußern wollte, freute sich die ALfA offensichtlich über den Kontakt. „Beim
       Künzeller Treffen der CDU Hessen in Fulda“, beschrieb Kaminski das Bild.
       Und: „Ein gutes Gespräch.“
       
       14 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
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       Die SPD hält an ihr als Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht fest.
       
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