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       # taz.de -- Album „Hymnal“ von Lyra Pramuk: An der Sonne lecken
       
       > Transkünstler:in Lyra Pramuk mischt auf ihrem Album „Hymnal“ fragile
       > Zukunftsmusik mit menschlichen Empfindungen. Stimmen stöhnen
       > Unverständliches.
       
   IMG Bild: Den Wachstumsprozess von Stängeln und Knospen hörbar machen: Lyra Pramuk
       
       Es gibt einen Moment im Roman „Die Angestellten“ der dänischen Autorin Olga
       Ravn, an dem man sich fragt: Was ist mit der Erde passiert, und wieso ist
       sie noch menschlich? Die Handlung spielt auf einem Raumschiff, besteht aus
       Verhörprotokollen mit undurchsichtigen Protagonist:innen, und je länger
       man liest, wie sie ihren Alltag schildern, desto mehr verschwimmt das
       Menschliche zum Humanoiden. Ähnlich verhält es sich mit „Hymnal“, dem neuen
       Album der in Berlin lebenden Musikerin Lyra Pramuk.
       
       Neben vielen anderen Ebenen [1][blitzt in der Musik der US-Transkünstler:in
       auch die Suche nach dem Menschlichen] im Unmenschlichen auf. Dazu muss man
       wissen: Pramuk, die auch schon im KI-Chor [2][ihrer kontroversen
       US-Kollegin Holly Herndon mitsang], ist eine Meister:in von
       Stimmverfremdung. Bei Pramuk wird Flüstern bisweilen zum sonoren Zischeln
       umgemodelt, so dass eine ungehörte Klangsignatur entsteht, ein stimmhaft
       gesungenes „Ah“ wird dergestalt zum geisterhaften Klagelaut.
       
       Pramuk injiziert ihrer eigenen Stimme gern Verfremdungseffekte, lässt
       einzelne Fragmente dann Schicht um Schicht überlagern und schafft auf diese
       Weise fragile Skelette, die innerhalb von Sekunden wieder in sich
       zusammenfallen. Die Stimme wird bei Pramuk in erster Linie als Leitmotiv
       und Instrument eingesetzt. Pramuks Soundpalette bewegt sich auch auf dem
       neuen Album immer entlang der Grenze des menschlich Erzeugbaren und
       markiert zugleich eine Art Übergangsritus hin zum Humanoiden.
       
       Während in Ravns Roman jedoch der Blick vom All zurück auf die Erde
       gerichtet wird, passiert in der Musik von „Hymnal“ das Gegenteil. Das Album
       werfe, sagte Pramuk im Vorfeld, auch einen astrologischen Blick auf die
       Welt. Man kann das als esoterisches New-Age-Gehabe abtun – oder diese
       Perspektive ernst nehmen, so wie Pramuk selbst.
       
       Und so lässt sich mit ihr fragen: In welcher Beziehung stehen wir Menschen
       zu den Planeten im Weltraum? Warum auch nicht, in Zeiten, in denen
       größenwahnsinnige Tech-Milliardäre aus Silicon Valley schon längst ihre
       Claims auf dem kolonisierten Mars abstecken, nachdem sie sich die Erde
       untertan gemacht haben?
       
       ## Pflanzen beim Sprießen zuhören
       
       Pramuk dockt an Gedanken der Zerstörung an, und im besten Fall strebt sie
       nach Wiederbelebung. In ihrer Musik kommt nicht nur etwas
       Science-Fiction-haftes zum Vorschein, sondern auch etwas zutiefst
       Weltliches. Vielleicht ließe sich die Musik als zukunftsträchtiges Nature
       Writing beschreiben. Während die Stimmen Unverständliches stöhnen, meint
       man direkt im Auftaktsong „Rewild“ Pflanzen beim Sprießen zuzuhören.
       
       „Rewild“, das bedeutet so viel wie Renaturierung und birgt die Sehnsucht
       danach, das Zerstörte wiederherzustellen. Die Grundlage dafür – den
       Wachstumsprozess von Stängeln und Knospen hörbar zu machen – liefern Pramuk
       Streicherarrangements des Sonar Quartetts. Auch das ist in einer Zeit, in
       der Bach-, Beethoven- und Strawinsky-Musik ins All geschossen wurde, nur
       folgerichtig.
       
       Rein musikalisch betrachtet, lotet Pramuks Musik Grenzen im Wechselspiel
       zwischen Stimminszenierungen und Streicherarrangements aus. Auf „Babel“
       fiept und röhrt es, im Hintergrund ertönt taktvolles Klatschen,
       unverständliches Surren und ein alles überlagernder Bass, der immer
       bedrohlicher klingt, je länger man ihn ertragen muss. Bei „Gravity“
       entsteht schließlich sogar eine Art Endzeitatmosphäre, die sich
       Klangschicht um Klangschicht aufbaut – aus immer lauter werdendem Fiedeln
       und Röhren.
       
       Zwischen diesen beiden Songs lichtet sich der Himmel, gibt den Blick frei
       auf Sonnenstrahlen. Streicher erklingen auf „Meridian“ plötzlich wieder
       affirmativ, und Pramuk singt zumindest kurzzeitig verständlich. Ihr
       Songtext als stotterndes Lautgedicht: „Licking the Sun / Licking the soil“.
       Die performative Verbindung zwischen Mensch, Sonne und Erde als
       versöhnlicher Moment. Auch darum könnte es in letzter Instanz in dieser
       tollen Soundlandschaft namens „Hymnal“ gehen.
       
       3 Jul 2025
       
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