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       # taz.de -- 1.230 Tage Krieg in der Ukraine: Fremde Kinder gibt es nicht
       
       > Ukrainische Kinder leben unter ständigem Beschuss und kennen es nicht
       > mehr anders. Angst gehört zur Tagesordnung, Schulunterricht läuft
       > nebenher.
       
   IMG Bild: Abschied von Tamara (8), Stanislaw (12) und Roman (17), Opfer eines russischen Luftangriffs auf die Stadt Korostyschiw am 25. Mai
       
       Jedes Mal, wenn aus dem „Nachbarland“ eine neue Ladung Munition Richtung
       Odessa fliegt, denke ich an die Kinder. Man hört die Luftabwehr, dann die
       Explosionen – die erste, die zweite, die dritte … und ich stelle mir vor,
       wie meine Kinder auf diesen Beschuss reagieren würden. Meine Tochter würde
       sicher laut rufen: „Papa, ich habe Angst!“. Während mein Sohn so etwas
       Lakonisches sagen würde wie: „Jetzt müssen wir alle sterben“.
       
       Zum Glück passiert das nur in meiner Fantasie. Bei jedem Beschuss danke ich
       dem Schicksal, dass meine Kinder in einem anderen Land sind, in dem kein
       Krieg herrscht. Aber wenn ich morgens das Haus verlasse, sehe ich die
       Kinder, die hier geblieben sind, im Krieg. Bei uns sagt man: „Fremde Kinder
       gibt es nicht“.
       
       Wenn ich sie sehe, weiß ich, [1][dass sie vermutlich nachts im Korridor
       oder Keller gezittert und geschrien haben]. Dass sie schon psychische
       Probleme und Schlafstörungen haben. Und das vielleicht bis zum Ende ihres
       Lebens. Es ist dann schwer, die Tränen zurückzuhalten. Besonders schlimm
       ist das in Städten wie Cherson, Slowjansk oder Nikopol, wo der Beschuss
       fast nie aufhört, während die Kinder auf der Straße spielen.
       
       Man möchte die Eltern anschreien: „Nehmt eure Kinder und dann nichts wie
       weg!“ Obwohl man weiß, dass sie nicht gehen werden. Denn wohin sollten sie
       gehen? Die Väter sind in der Armee. Die Mütter waren vielleicht sogar mal
       weg, sind aber längst wieder zurück, weil sie sich nicht an das Leben im
       Ausland gewöhnen konnten. Und in der Ukraine wird ja sowieso überall
       geschossen, wie sie sagen würden. Deswegen sind sie in die frontnahen
       Städte zurückgekehrt, nach Hause, mit ihren Kindern.
       
       ## Unterricht zum Überleben
       
       Die Kinder kennen kein anderes Leben mehr. Mit etwas Glück lernen sie in
       Kellern oder Metro-Stationen. Sonst bleibt nur Online-Unterricht im Bunker,
       mit schlechtem Netz. Dafür lernen sie, wie eine fliegende Rakete klingt,
       wohin man bei Drohnenbeschuss rennen muss und wie man Verwundeten
       Aderpressen anlegt. Das hilft ihnen zu überleben, es macht sie
       disziplinierter und … leiser. Denn jedes laute Geräusch wird als Beschuss
       wahrgenommen, sodass die Kinder selbst im sicheren Ausland vor Flugzeugen
       und Feuerwerk Angst haben.
       
       [2][Und ständig spielen sie Krieg]. In meiner Kindheit haben wir das auch
       manchmal gemacht, es gab „Unsere“ und „die Faschisten“. Für die
       ukrainischen Kinder heute gibt es „Unsere“ und „die Russen“. Übrigens
       unabhängig davon, welche Sprache sie selber sprechen.
       
       Bei den älteren Jugendlichen dreht sich viel um den Schulabschluss. [3][In
       Charkiw] haben gerade Absolventen ihren traditionellen Abschlusswalzer in
       den Ruinen ihrer von einer russischen Rakete zerstörten Schule getanzt.
       Relativ viele Absolventen bemühen sich um Studienplätze im europäischen
       Ausland. Die meisten von ihnen werden danach kaum in die Heimat
       zurückkommen, denn sie möchten nicht unter ständigem Beschuss leben oder
       dauernd in den Keller laufen.
       
       Warum ich das alles erzähle? Einfach, damit Sie nicht vergessen, Ihr Kind
       zu küssen und in den Arm zu nehmen. Ich hoffe, dass Sie diese Möglichkeit
       haben.
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
       
       7 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Artem Perfilov
       
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