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       # taz.de -- Film „Leonora im Morgenlicht“: Eine Surrealistin unter Männern
       
       > „Leonora im Morgenlicht“ würdigt Leonora Carrington als eine der
       > wichtigsten Künstlerinnen des Surrealismus. Eine Muse wollte sie nie
       > sein.
       
   IMG Bild: Die Filmbilder sehen selbst teilweise wie surrealistische Gemälde aus: Szene aus „Leonora im Morgenlicht“
       
       Die 2011 in Mexiko-Stadt verstorbene britisch-mexikanische Künstlerin
       Leonora Carrington hat selber einmal gesagt, dass sie keine Zeit dafür
       gehabt habe, die Muse eines anderen zu sein, weil sie zu sehr damit
       beschäftigt gewesen sei, gegen ihre Familie zu rebellieren. Vermutlich
       hatte sie auch kein Interesse, die Muse (überwiegend männlicher)
       surrealistischer Künstler zu sein, war sie doch selbst eine bedeutende
       Künstlerin.
       
       Ja, die historische Avantgarde gab sich [1][künstlerisch fortschrittlich,]
       verharrte bezüglich Gleichberechtigung aber im 19. Jahrhundert. Bei der
       berühmten Exposition Internationale du Surréalisme 1938 in der Galerie
       Beaux-Arts stellten mit Leonora Carrington und der spanischen Malerin
       Remedios Varo gerade mal zwei Künstlerinnen ihre Werke aus.
       
       Die von Thor Klein und Lena Vurma inszenierte, geschriebene und produzierte
       Künstlerbiografie „Leonora im Morgenlicht“ dreht sich um diese beiden
       Prägungen Leonora Carringtons, die durch das Elternhaus und die durch eine
       männlich geprägte Umgebung.
       
       ## Bedrängt von André Breton
       
       Die Rolle der Muse wird explizit in der einzigen Situation aufgegriffen, in
       der die Gruppe der Surrealisten zu sehen ist. Es ist deren Vordenker
       [2][André Breton,] der Leonora Carrington – es ist in etwa die Zeit, als
       die erwähnte Ausstellung gezeigt wurde – nahezu bekniet, seine Muse zu
       werden. Sie fühlt sich bedrängt.
       
       Er sei eine problematische Persönlichkeit, meint sie im Anschluss zu Max
       Ernst, mit dem sie zu diesem Zeitpunkt bereits eine Affäre hatte. Der
       reagiert gelassen. Breton sei ein einsamer Mensch.
       
       Die junge Leonora und der deutlich ältere Max Ernst sind anfangs alles
       andere als einsam. Sie haben ihre Liebe und ihre gegenseitige künstlerische
       Wertschätzung. Nachdem sie nach Saint-Martin-d’Ardèche, am Ende der ebenso
       malerischen wie wilden Ardèche-Schlucht in Südfrankreich, umgezogen sind,
       wird ihr Leben gar zur Idylle. Sie genießen das Leben und ihre
       künstlerische Arbeit in vollen Zügen.
       
       Doch mit der Invasion Deutschlands in Frankreich bricht 1940 mit aller
       Härte die Realität ein. Max Ernst wird von der Gendarmerie festgenommen.
       Völlig verzweifelt schreit sie ihrem Geliebten hinterher, als dieser
       abgeführt wird, nicht weil er Nazi, sondern weil er gegen die Nazis ist.
       Frankreich ist bereits infiltriert.
       
       ## Woher stammt die Traumatisierung?
       
       Die gewaltsame Trennung von Max Ernst führt zu Leonoras psychischem
       Zusammenbruch. Die Wunde sitzt jedoch tiefer als eine verlorene Liebe. Die
       reale Leonora Carrington meinte in einem späten Interview, sie habe wie
       viele andere an einer Traumatisierung durch den Krieg gelitten.
       
       Im Film wird angedeutet, dass es um etwas sehr Persönliches gehen könnte.
       Ist es der Verlust eines Mannes, der in ihr mehr als nur eine Frau sieht?
       Reicht die Traumatisierung in ihre Kindheit zurück? Völlig heruntergekommen
       wird sie von ihrer Freundin, der spanischen Malerin Remedios Varo, in ihrem
       Landhaus gefunden.
       
       An diesem Punkt setzt „Leonora im Morgenlicht“ die Erzählung überraschend
       elliptisch fort, wenn Leonora plötzlich in einer Nervenheilanstalt
       behandelt wird. Wie viel Zeit vergangen ist und wie sie an diesen Ort
       gekommen ist, bleib zunächst völlig unklar, denn Remedios Varo wird sie
       kaum eingeliefert haben. Sie wurde in einem völlig verwirrten Zustand auf
       der Straße aufgelesen, erzählt ihr später ein Arzt. Der beteuert zwar, ihr
       nur helfen zu wollen, doch ist die Behandlung mit Elektroschocks und einer
       medikamentösen Schocktherapie von mehr Qual als Heilung geprägt. Es ist ein
       Gefängnis, aus dem sie ausbrechen muss.
       
       Zugleich setzt an diesem Ort aber eine Art psychischer Verarbeitung ein.
       Dabei bleibt unklar, ob dies auch mit den Drogen zu tun hat, die ihr
       verabreicht werden. Leonora gelingt es jedenfalls, eine Tür zu ihrem
       Unbewussten zu öffnen (es ist auch eine ganz reale Tür, durch die sie gehen
       will, die es im Büro des sie behandelnden Arztes gibt). Dahinter liegt ihre
       Kindheit, in der sie und ihre Brüder von ihrem Vater in ihre
       Geschlechtsrollen gedrängt wurden. In einer Art Traumsequenz rächt sie sich
       symbolisch an ihrem Vater. Doch hat sie sich von dieser Prägung wirklich
       gelöst?
       
       ## Das Motiv der Hyäne
       
       Beim [3][diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis] diskutierte die Jury einmal
       über Für und Wider eines historischen Stoffes. Wie geht man fiktional mit
       historischen Ereignissen um? Eine etwas seltsam anmutende Diskussion, denn
       vor dieser Herausforderung steht fiktionales Erzählen ja sehr oft.
       „Leonora im Morgenlicht“ handhabt dies, indem die Bilderwelt der Künstlerin
       sowohl in ihren Gemälden als auch in ihren literarischen Veröffentlichungen
       in die Erzählung und Bilderwelt des Films übersetzt wird. Dies gilt vor
       allem für das Motiv der Hyäne, das auch dem in Kapiteln erzählenden Film
       der Episode in der Nervenheilanstalt als Titel vorangestellt ist.
       
       Die Hyäne kommt in Carringtons zwischen 1937 und 1938 entstandenem Gemälde
       „Self-Portrait (Inn of the Dawn Horse)“ und in der Kurzgeschichte „The
       Debutante“ vor, die sie Ende der 1930er Jahre herausbrachte. Darin ist die
       Hyäne eine Verbündete der jungen Protagonistin aus reichem Hause, die gegen
       ihre Eltern rebelliert. Im Film ist die Hyäne eine Art Schlüssel zu ihrem
       Unbewussten. Auch das Pferd aus ihrem Selbstporträt spielt zum Ende des
       Films noch eine Rolle.
       
       Motivischer Ausgangspunkt des in Rückblenden erzählenden Films ist der
       surrealistische Skulpturengarten Las Pozas, den Edward James, ein
       englischer surrealistischer Autor und Mäzen, der Leonora unterstützte, im
       mexikanischen Urwald errichtete. An diesem in mehrerer Hinsicht traumhaften
       Ort ist die Hyäne zum ersten Mal zu hören. Da wissen wir allerdings noch
       nicht, worum es sich bei dem merkwürdigen Laut handelt, und wundern uns,
       dass James nichts gehört hat.
       
       ## Facettenreiches Schauspiel
       
       Es ist nicht das typische abstoßende Kichern der Tüpfelhyäne, sondern ein
       surreal verfremdetes Brüllen und Rufen, das plötzlich durch den Dschungel
       dringt. Mehr als mit den Bildern erreicht der Film mit diesen verfremdeten
       Klängen und der eindringlichen Musik der Komponistin Mariá Portugal eine
       surreale Kraft.
       
       „Leonora im Morgenlicht“ lebt nicht zuletzt auch vom facettenreichen
       Schauspiel Olivia Vinalls. Die psychische Störung der Protagonistin wird
       nicht zu einem Gestus für die Figur, was ja denkbar gewesen wäre. Vinall
       stattet sie stattdessen vielseitig aus, sie kann gleichermaßen wunderbar
       leiden und das Leben genießen und dazwischen viele Schattierungen setzen.
       
       Das ist schlau, denn auf der Leinwand ist sie omnipräsent und das Publikum
       darf sich nicht sattsehen. Selbst während der Liaison mit Max Ernst bleibt
       sie im Zentrum der Handlung. Dazu trägt auch Alexander Scheer als Max Ernst
       bei, der die Bühne ganz der Schauspielerin/Künstlerin überlässt.
       
       „Leonora im Morgenlicht“ erzählt kein Biopic im üblichen Sinne, sondern
       versucht, über die künstlerischen Werke der Künstlerin einen erzählerischen
       Zugang zu ihrer Persönlichkeit zu finden. Dabei bleibt zwar einiges
       rätselhaft. Trotzdem gelingt eine eindringliche filmische Würdigung einer
       bedeutenden Künstlerin.
       
       15 Jul 2025
       
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