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       # taz.de -- Büchner-Preisträgerin Ursula Krechel: Witzig, skurril und voller Hoffnung
       
       > Die Schriftstellerin Ursula Krechel hat den Büchnerpreis 2025 verliehen
       > bekommen. Nach Gedichten und Essays schrieb sie jüngst vor allem Romane.
       
   IMG Bild: Die Schriftstellerin Ursula Krechel
       
       Ursula Krechel ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass es sich lohnt,
       unbeirrbar bei den eigenen ästhetischen Maßstäben zu bleiben. Die 1947
       geborene Autorin erzielte erst 2012 mit „Landgericht“ [1][einen großen
       Publikumserfolg], einem Roman, der eigentlich Schullektüre sein sollte. Es
       geht um den jüdischen Richter Richard Kornitzer, der während der Nazizeit
       ins Exil fliehen muss, dann nach Westdeutschland zurückkehrt und sich dort
       mit dem zähen Weiterleben der NS-Strukturen auseinandersetzen muss.
       
       Mittlerweile wird bei der Auseinandersetzung mit den 50er Jahren in erste
       Linie eine gelungene „Demokratisierung“ der BRD betont – das verharmlost
       allzusehr, welche Opfer dieser Prozess erforderte. Krechel legt mit ihrer
       Romantrilogie, zu der neben „Landgericht“ auch „Shanghai fern von wo“
       (2008) und „Geisterbahn“ (2018) gehören, den Finger auf eine gerade aktuell
       wieder schwärende Wunde.
       
       Bestechend sind bereits Krechels literarische Anfänge. Ihr Gedichtband
       „Nach Mainz!“ von 1977 gehört zu den erstaunlichsten Zeugnissen der
       Literatur der 70er Jahre. Das Titelgedicht ist witzig, skurril und voller
       politischer Hoffnungen. Da finden sich drei Frauen in einer Düsseldorfer
       Geburtsklinik wieder: Angela Davis, die Ikone der schwarzen
       Bürgerrechtsbewegung in den USA, die Jungfrau Maria und das lyrische Ich.
       
       Sie erfahren, dass südlich der Mainlinie ein neuer deutscher
       sozialistischer Staat gegründet wird, und sie schwimmen flussaufwärts bis
       nach Mainz, dem Standort der kurzlebigen ersten deutschen freien Republik
       von 1793. Feministisch, sozialistisch, lustig: Dieser Ton war erfrischend,
       und Krechel setzte ihre gesellschaftlichen Erkundungen sprachbewusst und
       spielerisch fort – „Verwundbar wie in den besten Zeiten“ hieß ihr
       Gedichtband von 1979.
       
       ## Dokumentarisch, assoziativ
       
       Es gibt ein Foto von einer Münchener Frauengruppe Anfang der 70er Jahre,
       auf dem Krechel neben Verena Stefan zu sehen ist, der Autorin von
       „Häutungen“, dem ersten feministischen Bestseller. Doch Krechel zeichnete
       immer auch aus, dass ihre Texte skrupulös konzipiert sind. Sie changieren
       zwischen sprachlichen Experimenten und politischen Tiefenbohrungen und
       stießen bei der Kritik nicht immer auf Zustimmung. Ihr Eigensinn hatte oft
       etwas Verstörendes, so auch in ihrem ersten Roman „Zweite Natur“ von 1981,
       in dem ein Wohngemeinschaftsexperiment seziert wird.
       
       Ursula Krechel liebt die schillernden, kurzen, multiperspektivischen
       Genres, sie schreibt Theaterstücke, Gedichte, Essays und Prosa. Auch ihre
       erfolgreiche späte Romantrilogie ist keine Fiktion im üblichen Sinne. Sie
       geht vom Dokumentarischen aus, verknüpft die genau recherchierten
       zeitgeschichtlichen Daten aber virtuos durch assoziative Sprachbilder und
       dicht herangezoomte Figurenkonstellationen.
       
       Ein herausragender Essayband erschien 2022: „Gehen. Träumen. Sehen. Unter
       Bäumen“. Das klingt im ersten Moment eher abstrakt. Aber gleichzeitig zielt
       es auf sinnliche Vorgänge und verschiedene Formen der Wahrnehmung. Poesie
       und gedanklich geschärfter Essay gehen bei Ursula Krechel eine geglückte
       Verbindung ein, die Sätze strahlen nach allen Seiten hin aus, sind offen
       und doch sehr konzis, genauso, wie sie es als den Idealfall definiert: Ein
       Essay entfalte sich „in einer fortschreitenden Denkbewegung […] Er ist
       Denkbild, Wahrnehmungsfilter, eine Instanz dieses Prüfens, angesiedelt im
       DAZWISCHEN, dem Ort der Versuche, dem Ort der Versuchung, Ausschweifung und
       Engführung zugleich.“
       
       Schöner kann man es nicht sagen. Ursula Krechel ist eine wirklich würdige
       Büchnerpreisträgerin.
       
       15 Jul 2025
       
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