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       # taz.de -- Gentrifizierung in Berlin: Kämpfen für eine solidarische Stadt
       
       > Die Nachbarschaftsinitiative „Bizim Kiez“ in Kreuzberg kämpft seit zehn
       > Jahren gegen Verdrängung – und bleibt trotz Rückschläge optimistisch.
       
   IMG Bild: Der Kiez gehört uns: Jung und Alt feiern am Mittwochabend das zehnjährige Bestehen des Bizim Kiez
       
       Berlin taz Es ist wuselig, auf der Wrangelstraße in Kreuzberg am
       Mittwochabend. Kinder malen mit Kreide, Erwachsene trinken Bier und essen
       Linsensuppe vom „Kiosk der Solidarität“. Es wird gelacht, gequatscht,
       gesungen. Die belebte Straße erinnert an ein offenes Wohnzimmer, in dem man
       sich ungezwungen aufhalten und wohlfühlen kann. Und Gemeinschaft erfährt,
       auch das.
       
       „Ich bin eigentlich kein Fan vom Dorf, aber manchmal fühlt es sich hier so
       an“, sagt Philipp Vergin, der seit 2001 im Wrangelkiez lebt und
       Gründungsmitglied der Nachbarschaftsinitiative Bizim Kiez ist. Denn die
       feiert an dem Abend, auf der Straße zwischen Wohnhäusern, Falafelladen und
       Späti ihr zehnjähriges Bestehen – und blickt auf zahlreiche Kämpfe gegen
       Verdrängung und Gentrifizierung zurück, die über den eigenen Kiez
       hinausreichen.
       
       Angefangen hat alles im Frühsommer 2015 in der Wrangelstraße 77, wo dem
       familienbetriebenen Gemüseladen Bizim Bakkal vom Eigentümer von jetzt auf
       gleich gesagt wurde: Ihr müsst raus. „Da hat es dem ganzen Kiez wirklich
       gereicht. So kann es doch nicht weitergehen“, erinnert sich Magnus Hengge,
       der wie Vergin den Bizim Kiez mitgegründet hat. „Warum können die Leute mit
       dem vielen Geld sagen, wie sich unsere Stadt entwickeln soll und warum
       können wir das nicht, die wir hier leben?“, sagt Hengge.
       
       Dieser Gedanke zündete. Aus einer anfangs überschaubaren Gruppe von rund 20
       Kiezbewohner:innen, die sich mit der Bakkal-Familie solidarisierten und
       wöchentliche Kundgebungen gegen die Verdrängung des Geschäftes
       organisierten, schlossen sich innerhalb kurzer Zeit hunderte Personen aus
       der umliegenden Nachbarschaft an.
       
       „Bizim Bakkal war mehr als nur ein Laden“, sagt Hengge, sondern für viele
       Anwohner:innen jahrelang ein sozialer Treffpunkt. „Unser Laden – das
       war auch die Haltung der Familie, die diesen betrieben hat“, so Hengge
       weiter.
       
       ## Protest von unten hat Erfolg
       
       [1][Der Protest war erfolgreich]: Der Eigentümer zog die Kündigung zurück,
       Bizim Bakkal konnte die Nachbarschaft weiterhin mit Lebensmitteln
       versorgen, bis die Familie den Laden ein Jahr später krankheitsbedingt
       aufgab. Seitdem stehen die Räumlichkeiten leer, die mit Graffiti besprühten
       Rollläden sind heruntergelassen.
       
       Bizim Bakkal war weder der erste, noch der letzte Laden, der von der in
       Kreuzberg wütenden Verdrängungsmaschinerie erfasst wurde. Von der
       Buchhandlung über den Bäcker und Späti bis hin zur Gemeinschaftspraxis, zum
       Kinderladen und zu Hausprojekten: Sie alle zeigen, dass die Profitgier von
       Investoren und Immobilienkonzernen selbst vor der sozialen Infrastruktur
       eines Kiezes keinen Halt macht.
       
       Für die Aktivist:innen des Bizim Kiez war und ist diese Entwicklung
       nicht hinnehmbar. „Wo es ums Eingemachte ging, da haben wir geklagt“,
       erinnert sich Hengge. Neben Protestaktionen, Öffentlichkeitsarbeit und
       Beratungsangeboten hat die Initiative in den vergangenen Jahren
       Gewerbetreibende und Nachbar:innen bei Gerichtsprozessen unterstützt.
       Ganz unbeschadet sei die Initiative nicht davon gekommen, „aber mit
       Solidarität hat das irgendwie geklappt“, so Hengge.
       
       Neben der nachbarschaftlichen Solidarität ist auch die breite Vernetzung
       mit anderen Berliner Mieteninitiativen wie Deutsche Wohnen & Co. enteignen
       und dem Bündnis gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn ein tragender
       Bestandteil von Bizim Kiez. Ihren Höhepunkt erlebte die Mietenbewegung im
       September 2021, als knapp 60 Prozent der am Volksentscheid Deutsche Wohnen
       & Co. enteignen teilnehmenden Berliner:innen für die Vergesellschaftung
       von großen Immobilienkonzernen stimmte.
       
       ## Ist die Mietenbewegung gescheitert?
       
       Und wie sieht es heute aus? Der schwarz-rot-geführte Senat [2][zögert die
       Umsetzung des Volksentscheides immer weiter hinaus], der Mietendeckel in
       Berlin wurde vom Bundesverfassungsgericht gekippt, Verdrängung und
       Gentrifizierung schreiten munter voran. Ist die Mietenbewegung gescheitert?
       
       Philipp Vergin nimmt einen Schluck von seinem Bier, überlegt, schüttelt
       schließlich den Kopf. „Bewegungen erleben immer Konjunkturen.“ Noch immer
       sei man eine feste Gruppe von 10 bis 20 Personen, die sich regelmäßig
       treffe und sich weiterhin gegen Verdrängung wehrt. Zurzeit fließe die
       meiste Energie gegen die [3][Zaunbebauung des Görlitzer Parks in
       Kreuzberg], denn auch der gehört zu einer solidarischen Stadt.
       
       Im nächsten Jahr stehen in Berlin die Wahlen zum Abgeordnetenhaus an, ein
       Regierungswechsel könnte auch eine sozialere Mietenpolitik bedeuten. Linke,
       Grüne und SPD würden erkennen, dass bezahlbarer Wohnraum ein Thema ist, das
       die Leute umtreibt und zurück auf die politische Agenda gehört, so Vergin.
       
       „Ich bin optimistisch“. Denn was sei die Alternative dazu, als dem
       neoliberalen Ausverkauf der Stadt tatenlos zuzusehen? Ja, es gab
       Rückschläge und nicht alle Kämpfe wurden gewonnen. Doch „man muss erstmal
       kämpfen, um überhaupt was zu erreichen“, steht für Vergin fest. Wie das
       geht, hat der Bizim Kiez in zehn Jahren gezeigt.
       
       17 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kampf-um-Bizim-Bakkal/!5210851
   DIR [2] /Deutsche-Wohnen--Co-enteignen/!6092920
   DIR [3] /Goerlitzer-Park-in-Berlin/!6094255
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nina Schieben
       
       ## TAGS
       
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       Verdrängung weiter.