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       # taz.de -- Schau „Afrosonica Soundscape“ in Genf: Einem Museum beim Denken zuhören
       
       > In „Afrosonica Soundscape“ blickt das Ethnografische Museum Genf
       > selbstkritisch auf seine Sammlungsgeschichte. Dazu holt es die
       > Klangvielfalt Afrikas hervor.
       
   IMG Bild: Von ihr gibt es in der Ausstellung „Afrosonica – Soundscape“ unbekannte Songs zu hören: Miriam Makeba, bei einem Auftritt 1969
       
       Es ist ein heißer Sommertag, aber für die luftgekühlte Temperatur im
       zweiten Untergeschoss hat man hoffentlich einen Pullover dabei. Denn
       [1][die Ausstellung „Afrosonica“, momentan im Ethnografischen Museum in
       Genf (MEG)] zu sehen, findet in klimatisierter Atmosphäre statt. Logisch,
       schließlich werden hier empfindliche Exponate gezeigt. Und doch stellt sich
       auf der Treppe nach unten die Frage, ob dies der richtige Ort ist, um die
       weiten und vielfältigen Klanglandschaften Afrikas zu behandeln. Und
       nebenbei über die Zukunft einer Institution nachzudenken, die man früher
       vielerorts „Völkerkundemuseum“ genannt hat.
       
       Seit einem guten Jahrzehnt diskutiert die Schweiz über eigene
       Verflechtungen in der Kolonialzeit. Auch ohne auswärtige Territorien
       profitierte das kleine mitteleuropäische Land von kolonialen
       Handelsbeziehungen. Schweizerische Staatsbürger beteiligten sich zudem an
       Feldzügen, waren in der Missionierung und in der Verwaltung von Kolonien
       aktiv. Auch das 1901 von dem Anthropologen Eugène Pittard gegründete
       ethnografische Museum Genf hat sich mit seinen über 70.000 Objekten der
       eigenen Vergangenheit zu stellen.
       
       Schließlich war das Grundprinzip solcher Sammlungen die Extraktion am
       Originalschauplatz und die Translokation nach Europa. Dies gilt auch, wenn
       die Umstände mehr oder weniger sauber erscheinen. Denn unter welchen
       Bedingungen kamen eine Schenkung oder ein Kaufpreis zustande?
       
       Häuser wie das Genfer MEG bemühen sich derzeit um die Aktivierung von
       Publikum und Exponaten. An die Stelle neutral inszenierter, in sich
       ruhender Werke soll die soziale Interaktion treten. Weg von der leblosen
       Präsentation in Vitrinen, hin zu mehr Partizipation, Inklusion und eben:
       Dekolonisierung. Nur, lässt sich die grundsätzliche Neuausrichtung in den
       bestehenden Strukturen vollziehen, oder wäre die konsequent dekolonisierte
       ethnografische Sammlung letztlich eine, die sich selbst zur Abschaffung
       vorschlägt?
       
       ## „Négritude“-Bewegung der 1960er-Jahre
       
       Das kuratorische Team der „Afrosonica“ um die Schweizer Ethnomusikologin
       Madeleine Leclair stellt sich dem existenziellen Themenkomplex und macht
       dabei fast alles richtig. [2][Als Co-Kurator wurde Mo Laudi] eingebunden,
       ein multidisziplinärer Künstler und DJ aus Südafrika, dessen
       „Globalisto“-Philosophie die grenzenlose Gastfreundschaft zelebriert – eine
       solche möchte auch die Ausstellungsarchitektur in Genf signalisieren, mit
       einer Art Marktplatz als zentralem Treffpunkt.
       
       Die Taktik ist, sehr viel Material zur Verfügung zu stellen, auf dass ein
       Neologismus wie „Afrosonica“ nicht reduzierend, sondern öffnend wirke.
       Schließlich wäre jeder Versuch, den gegenwärtigen Stand der musikalischen
       Stilvielfalt Afrikas strukturieren und übersichtlich darstellen zu wollen,
       zum Scheitern verurteilt.
       
       Wir dürfen also eintauchen in klingende Dokumente, von denen viele bislang
       nur schwer zugänglich waren, von Spoken-Word-Poesie bis hin zu religiösen
       Beschwörungsgesängen. Die Ausstellung überzeugt gerade da, wo sie den
       direkten Zugriff ermöglicht. Entstanden [3][auf dem gesamten afrikanischen
       Kontinent wie auch in der weltweiten Diaspora], sprechen die Aufnahmen für
       sich und brauchen nicht viel Inszenierung.
       
       Eine Sitzecke mit Kopfhörer reicht, um sich in unbekanntere Songs von
       Miriam Makeba, in weibliche Sufi-Praktiken der Insel Mayotte oder in
       Lesungen der vor allem in Westafrika aktiven literarisch-philosophischen
       „Négritude“-Bewegung der 1960er-Jahre zu vertiefen. Die Energie geht
       unmittelbar durch den Körper.
       
       Manche technische Lösung kommt dagegen noch zu westeuropäisch daher, so die
       kultische Anrufung der Vorfahren inmitten einer Hightech-Rotunde mit
       dynamischen LED-Panels. Dies gilt auch für die an sich interessante Idee,
       Zeiten und Räume zu überbrücken.
       
       So werden elektroakustische Kompositionen des zeitgenössischen
       marokkanischen Komponisten Ahmed Essyad in einer Blackbox mit 10.000 Jahre
       alten Höhlenmalereien aus dem Tschad kombiniert. Die Resonanzfrequenz soll
       durch dünnes Holz den sitzenden Körper anregen. Doch es fühlt sich so
       mechanisch an wie ein Massagestuhl am Flughafen, und zwischen Bild und
       Klang will sich keinerlei Korrespondenz einstellen.
       
       ## Verfallen die Objekte in einen musealen Tiefschlaf?
       
       Der Zusammenhang scheint zu mediatisiert und weit hergeholt. „Afrosonica“
       möchte ja etwas überaus Lebendiges zeigen – und zeigt es auch, etwa in
       Videos vom Pyroeinsatz auf Mahraganat-Straßenpartys in Kairo, oder von
       einer Rumba-Probe der Brigade Sarbati Hercule in der kongolesischen
       Metropole Kinshasa, die sich ekstatisch entwickelt.
       
       Teil der „Afrosonica“-Planungen war die Sorge darum, was mit Exponaten in
       europäischen Archiven und Sammlungsdepots geschieht. Verfallen die
       [4][Stücke in eine Art musealen Tiefschlaf]? Derart behütet altern sie
       sicher gut, doch eine nicht westliche Art der Pflege bestünde in ihrer
       Benutzung. So ergingen zwei Aufträge, die sich an Hörstationen erleben
       lassen: Die japanische Komponistin Midori Takada brachte eingelagerte
       Rasseln, Schellen und Gongs neu zum Klingen, der großartige Klangkünstler
       KMRU aus Nairobi interpretierte Teile des hauseigenen Archivs mit
       Folkaufnahmen neu.
       
       Auch in konservatorischer Hinsicht werden neue Perspektiven eingenommen,
       etwa auf die per Daumen zu spielenden Kalimbas. Vorn weisen sie Spuren der
       Benutzung auf, während hinten die Inventarisierungsdaten verzeichnet sind.
       Da steht dann zum Beispiel: „Belgisch-Kongo, Nr. 008812“. Das Objekt
       spricht also auf beiden Seiten, von denen zumeist nur die eine gezeigt
       wird.
       
       Es ist interessant, einem Museum beim Nachdenken über sich selbst
       zuzusehen. Wie etwa im Ausstellungskatalog immer wieder bei Angehörigen
       indigener Communitys nachgefragt wird: Ist es für euch okay, wie wir das
       hier planen? Kann man das so machen? Dieser Prozess ist noch lange nicht
       abgeschlossen.
       
       Den Zwischenstand des Denkprozesses zu zeigen und dabei eine lange
       marginalisierte Klangkunst in den Fokus zu rücken, ist die Leistung von
       „Afrosonica Soundscape“. Die Ausstellung in Genf ist also eine Reise wert,
       Sie sollten auf dem Weg nach Frankreich unbedingt einen Zwischenhalt
       einlegen. Aber nehmen Sie bitte etwas zum Überziehen mit.
       
       12 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.meg.ch/en/expositions/afrosonica-soundscapes
   DIR [2] /57-Jazzfestival-in-Montreux/!5946883
   DIR [3] /Motown-meets-Westafrika/!5774632
   DIR [4] /Nach-der-Restitutionsdebatte/!6025735
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andi Schoon
       
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