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       # taz.de -- Rechter Terror in Neukölln: 300 Stunden Aufklärung und ein zweifelhaftes Ergebnis
       
       > Der Untersuchungsausschuss Neukölln trifft sich vorläufig letztmalig. Das
       > Resümee der Abgeordneten ist durchwachsen, das der Betroffenen
       > vernichtend.
       
   IMG Bild: Aufklärung außerparlamentarisch – Claudia von Gélieu spricht vor dem Abgeordnetenhaus
       
       Berlin taz | Im März 2018 beobachten Observationskräfte des Berliner
       Verfassungsschutzes den LKA-Beamten Andreas W. bei einem Besuch in der
       Fußballkneipe „Ostburger Eck“ in Rudow. Was sie zu sehen glauben, ist
       gravierend: ein Treffen zwischen W. und dem Neonazi Sebastian T., einem
       Hauptverdächtigen in der „Neukölln-Komplex“ genannten rechtsextremen
       Anschlagsserie im Bezirk. Doch später widerspricht die Polizei dem
       Verfassungsschutz, sagt, es habe sich um eine Verwechslung gehandelt.
       Seither steht zwischen den Behörden Aussage gegen Aussage.
       
       Sowohl der Linken-Abgeordnete Niklas Schrader als auch André Schulze von
       den Grünen hoben am Freitag dieses eine aus den vielfältigen irritierenden
       Vorkommnissen im Neukölln-Komplex hervor, um die Grenzen ihrer eigenen
       Arbeit im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu verdeutlichen. „Was
       stimmt, wissen wir einfach nicht“, sagte Schrader auf einer Pressekonferenz
       im Abgeordnetenhaus am Freitag. Dennoch hat der Ausschuss nun – nach 49
       Sitzungen – seine Beweisaufnahme vorerst abgeschlossen, weshalb die
       Abgeordneten Resümee ziehen.
       
       Was bei ihrer Arbeit an Material zusammengetragen wurde, ist überwältigend:
       102 Zeug:innen seinen befragt wurden, sagte der Ausschussvorsitzende
       Vasili Franco (Grüne) zu Beginn – Betroffene, Polizist:innen,
       Staatsanwälte, Politiker:innen, Verfassungsschützer:innen. 303 Stunden habe
       man zusammengesessen, insgesamt seien Hunderttausende Aktenseiten
       zusammengetragen worden. Unmöglich, das alles zu lesen – das geben die
       Abgeordneten freimütig zu.
       
       Jetzt, nach dem vorläufigen Ende der Beweisaufnahme, wollen sie über den
       Abschlussbericht diskutieren und ihre Handlungsempfehlungen für die Politik
       ausarbeiten. Vorgestellt werden soll beides im Frühling 2026.
       
       ## Verfassungsschutz behindert Arbeit
       
       Was hat all die Arbeit gebracht? Ein kurzer Blick zurück: Einberufen wurde
       der Parlamentarische Untersuchungsausschuss, weil in Neukölln schon seit
       2009 Anschläge gegen antifaschistische Orte und Menschen verübt werden,
       etwa den Linken-Politiker Ferat Koçak. Alleine seit 2016 zählt die Polizei
       inzwischen über 70 Straftaten, darunter über 20 Brandstiftungen. Auch die
       Morde an Burak Bektaş und Luke Holland rechnen Aktivist:innen dem
       Komplex zu.
       
       Doch [1][jahrelang gibt es keine Ermittlungsergebnisse]. Stattdessen wird
       ein rechtsextremer Hintergrund der Taten von den Behörden lange negiert. Im
       Februar 2022 wurde deshalb der Parlamentarische Untersuchungsausschuss ins
       Leben gerufen. Ende 2024 wurden zwei Tatverdächtige – der oben erwähnte
       [2][Sebastian T. und der Nazi Tilo P.] (41) – wenigstens wegen zwei der
       Brandanschläge auf Autos zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
       
       Ist nun also alles aufgeklärt? Das verneinen die meisten
       Ausschussmitglieder. Keineswegs hätten die Behörden mit dem Ausschuss
       bereitwillig kooperiert, sagte etwa der Vorsitzende Vasili Franco.
       Besonders kritisierte er die Rolle des Verfassungsschutzes, der „einen
       Großteil der Akten“ nicht herausgegeben habe. „Die effektive
       parlamentarische Kontrolle wurde so erheblich erschwert, wenn nicht gar
       unmöglich gemacht“, so sein ernüchterndes Resümee.
       
       ## Hat die Polizei ein Leck?
       
       Bei der Polizei habe sich wenigstens im Laufe der Zeit eine Besserung
       eingestellt, merkte sein Parteikollege Schulze an. „Am Anfang wurde die
       Lage bagatellisiert und unterschätzt, später hat die Polizei aber genauer
       ermittelt“, sagte Schulze. Doch häufig sei dann „schon so viel Zeit
       verstrichen“ gewesen, so dass „die Ermittlungen später nicht mehr aufgeholt
       werden konnten“. Viele Verdachtsmomente hätten in der Ausschussarbeit nicht
       belegt, aber auch nicht widerlegt werden können – wie etwa die im Verlauf
       des Ausschusses auch von einem Polizisten geäußerte Vermutung, dass die
       Nazis mit Polizeiinfos gefüttert wurden.
       
       Und so ist man sich in den Reihen der Abgeordneten eben auch in den
       Schlussfolgerungen weiterhin höchst uneinig. Da ist etwa der
       CDU-Abgeordnete Stephan Standfuß, der sogleich erklärte, der Ausschuss habe
       gezeigt, „dass es rechtsradikale Strukturen in der Polizei nicht gibt“. Was
       es gegeben habe, seien lediglich „Einzelfälle“, die aber natürlich in
       keinem Vergleich zu der engagierten Arbeit der meisten Beamten stünden –
       „auch wenn diese Arbeit nicht immer mit dem nötigen Erfolg gekrönt war“.
       
       Völlig anders sah dies der Linken-Abgeordnete Niklas Schrader. Ab wann man
       von einer Struktur sprechen könne, sei zwar Auslegungssache, sagte er.
       Gleichzeitig klagte Schrader die Konsequenzlosigkeit bei Fehlverhalten von
       Polizist:innen an. Schrader verwies dabei etwa auf den Polizisten
       Stefan K., der bis 2016 in der Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus (EG Rex)
       auch zum Neukölln-Komplex ermittelte, später gemeinsam mit zwei
       polizeibekannten Rechtsextremen einen afghanischen Flüchtling verprügelte,
       dafür von einem Gericht auch rechtskräftig verurteilt wurde. Dennoch darf
       K. [3][weiter im Polizeidienst bleiben].
       
       Darüber hinaus betonte Schrader, dass die Arbeit des Ausschusses gezeigt
       habe, wie die Probleme stets in dem „konkreten Handeln und der konkreten
       Kompetenz des Handelns“ der Behörden gelegen habe – und nicht etwa in ihrer
       fehlenden Ausstattung oder ihren fehlenden Befugnissen. Offenbar auch mit
       Blick auf die derzeit von Schwarz-Rot [4][im Zuge der Asog-2-Novelle]
       angestrebte Ausweitung von Polizeibefugnissen sagte Schrader: „Wer das
       fordern will, kann sich nicht auf die Ergebnisse dieses Ausschusses
       stützen.“
       
       ## Fundamentalkritik von Initiativen und Betroffenen
       
       So durchwachsen das Resümee der Parlamentarier ist, so deutlich üben die
       Betroffenen und die Initiativen, die den Ausschuss von Beginn an eng
       begleitet haben, Fundamentalkritik. Der selbst von einem lebensgefährlichen
       Brandanschlag betroffene Ferat Koçak sagte etwa der taz, er habe „von
       Beginn an keine großen Erwartungen“ gehabt. Die Aufklärung hätten
       antifaschistische Initiativen bereits selbst geleistet. „Was der
       Untersuchungsausschuss für uns gebracht hat, ist vor allem, dass der
       Charakter als Terrorserie anerkannt wurde“, so Koçak.
       
       Auch ihn stören vor allem die fehlenden Konsequenzen der Aufklärung.
       „Sowohl die Polizeipräsidentin als auch der Staatsschutz haben in meinem
       Fall Versäumnisse eingeräumt, aber es folgten keine Konsequenzen. Solange
       das so ist, wird so etwas immer wieder passieren“, sagte Koçak. Die
       politische Arbeit in der Sache habe ihn ausgebrannt, immer wieder seien er
       und die anderen Betroffene retraumatisiert worden. „Der Apparat muss sich
       verändern. Aber das tut er nicht“, sagt er mit leicht erbitterter Stimme.
       
       Ähnlich formulierte es auch [5][Claudia von Gélieu] auf einer Demo vor dem
       Abgeordnetenhaus am Nachmittag. Auch das Auto der Politikwissenschaftlerin
       und Publizistin wurde 2017 niedergebrannt. Als einen „Tiefpunkt“ des
       Ausschusses bezeichnete sie etwa die Beteiligung der AfD – die allerdings
       während des gesamten Ausschusszeitraumes fast nie zu den Sitzungen
       erschien. Dennoch habe die AfD alle Unterlagen erhalten, „während kein Name
       von Beschuldigten voll genannt werden durfte“, kritisierte von Gélieu. „Das
       hat gezeigt, wie wenig das Parlament uns ernst nimmt.“
       
       4 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Rechter-Terror-in-Berlin-Neukoelln/!t5612550
   DIR [2] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/berlin-neukoelln-mehrjaehrige-haftstrafen-nach-rechtsextremen-brandanschlaegen-a-5d6341f6-1fab-4457-a114-6ff10c436cbd
   DIR [3] /Nach-Urteil-wegen-rassistischen-Angriffs/!5921950
   DIR [4] /Novelle-des-Berliner-Polizeigesetzes/!6092759
   DIR [5] /Neukoelln-Untersuchungsausschuss/!5878887
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Timm Kühn
       
       ## TAGS
       
   DIR Rechter Terror in Berlin-Neukölln
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