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       # taz.de -- Zukunft Irans: Das Ringen um die Ära nach Chamenei
       
       > Nach den Schlägen des israelischen Militärs ist im Iran die Herrschaft
       > Ali Chameneis so geschwächt wie noch nie. Wie es dort weitergehen könnte.
       
   IMG Bild: Straßenszene in Teheran, im Hintergrund: Ali Chamenei, 86. Lange wird es nicht mehr dauern, bis der Kampf um die Nachfolge beginnt
       
       Es sind sonderbare Zeiten. Historische Schicksalstage, in denen ein längst
       ausgedientes Regime um seine Zukunft bangen muss. Ungewiss ist aber auch
       die Einheit, die Existenz Irans. In den zwölf Tage dauernden
       israelisch/amerikanischen Bombardements verlor die Islamische Republik
       nicht allein ihr wahnwitziges Atomprogramm, das Hunderte Milliarden Dollar
       gekostet und dem Land fast vierzig Jahre beispiellose Sanktionen beschert
       hat. Der Militär- und Repressionsapparat wurde praktisch enthauptet. Die
       Topwissenschaftler, die an der Bombe bastelten, wurden einer nach dem
       anderen gezielt getötet.
       
       Der Krieg ist nicht beendet. Täglich gibt es im ganzen Land Explosionen in
       Wohnhäusern und staatlich-religiösen bzw. militärischen Einrichtungen. Es
       seien defekte Gasleitungen, melden regelmäßig die offiziellen Webseiten,
       was Karikaturisten auf die Idee brachte, Israels Premier Benjamin Netanjahu
       als Gasinstallateur mit bitter-ironischen Sprüchen darzustellen. In dieser
       kuriosen Zeit steht das Achtzigmillionenvolk vor einer ungewissen Zukunft.
       Es sieht patrouillierende Milizen auf den Straßen und liest von brisanten,
       offenen Drohbriefen.
       
       ## Joav Galant schreibt an Ali Chamenei
       
       „Wir haben uns noch nie gesehen. Ich bin aber mir sicher, dass wir viel
       voneinander wissen.“ So beginnt Joav Galant, ehemals israelischer
       Verteidigungsminister, seinen offenen Brief an Irans Obersten Führer, Ali
       Chamenei. Es war der 11. Juli 2025, fast einen Monat nach Beginn der
       israelischen Militärschläge gegen Iran. Sein Brief enthält weder eine
       Anrede noch freundliche Grüße.
       
       „Ich kenne Sie seit fast drei Jahrzehnten“, schreibt Galant, „und habe
       jeden kritischen Wendepunkt Ihrer Führung mitverfolgt. Ich habe Ihre
       Entscheidungen, Ihre Doktrin und die Architektur Ihrer Stellvertreter in
       der Region verfolgt, miterlebt, wie Sie Chomeini ablösten, politische Macht
       anhäuften und versuchten, eine iranische regionale Hegemonie aufzubauen.
       Ich verstand nicht nur Ihre Ziele, sondern auch die Methoden, mit denen Sie
       diese erreichen wollten.“
       
       Als Verteidigungsminister sei er verantwortlich dafür gewesen, „israelische
       Geheimdienstinformationen, Luftwaffenkapazitäten und strategische
       Doktrinen, die über Jahrzehnte gesammelt und entwickelt wurden, in einem
       einzigen, koordinierten Militärplan zu vereinen“. Einen Plan, der „Ihren
       Ring des Feuers wie ein heißes Messer durch Butter zerschnitt und ihn
       schließlich zusammenbrechen ließ“.
       
       Dann kommt Galant auf den aktuellen Zwölftagekrieg im Juni zu sprechen:
       „Was sich dabei abspielte, war nicht bloß eine Militärkampagne. Es war der
       strategische Zusammenbruch eines Systems, an dessen Aufbau Sie vier
       Jahrzehnte lang gearbeitet haben.“ Israel sei in das Innerste des
       iranischen Herrschaftssystems, ins Zentrum der Macht auf höchster Ebene
       eingedrungen. „Aber mehr als nur der physische Schaden wurde etwas Tieferes
       offenbart: Wir sehen alles. Wir hören alles. Wir sind überall.“ Die
       israelischen Dienste haben auch die Gespräche zwischen Irans und Chameinis
       Verbündeten in Beirut, Damaskus und Teheran ausgespäht. „Und von denen
       stehen die meisten nicht mehr auf Ihrer Seite.“ Es gibt sie nicht mehr.
       
       „Wir kannten Ihre Zeitpläne. Ihre Standorte. Ihre Kommunikation. Ihre
       Zeitlinien. Ihre Ausweichpläne. Und Ihre blinden Flecken. In vielerlei
       Hinsicht wussten wir mehr über Sie als Sie über sich selbst“, so Galant.
       „Würden Sie Ihre Zukunft und die Ihres Landes in einem Wettlauf riskieren,
       den Sie nicht verheimlichen können und wahrscheinlich nicht beenden
       werden?“ Galants Brief schließt mit einer Warnung: „Beenden Sie Ihren Krieg
       gegen ein kleines, entschlossenes Land tausend Meilen von Ihrer Grenze
       entfernt und konzentrieren Sie sich stattdessen auf das Wohl und die
       Zukunft Ihres eigenen Volkes. Wenn Sie den Fehler wiederholen, sind wir da.
       Auf Sie wartend.“ Das ist unmissverständlich.
       
       Die jetzige Feuerpause scheint so betrachtet kaum mehr als eine Atempause.
       Es kann jederzeit wieder losgehen. Ali Chameneis „Islamische Republik“
       befindet sich in einem Schwebezustand. Die jetzige Phase markiert keine
       Nachkriegs-, sondern eher eine weitere Vorkriegszeit. Die Dimension dessen,
       was bisher genau geschehen ist, bleibt dabei im Dunkeln. Der größere Teil
       des iranischen Militärapparats ist zwar praktisch enthauptet; ob aber auch
       das iranische Atomprogramm bereits wirklich Geschichte ist, wer will es
       sagen? Was ist Propaganda, was beruht auf Tatsachen?
       
       ## Die Jagd auf Afghanen und israelische „Spione“
       
       Was wird aus der Islamischen Republik Iran, was aus Chameneis
       Lebensmission? Die Post-Chamenei-Ära ist bereits angebrochen, in sehr
       angespannter Atmosphäre. Die Jagd des Regimes auf (vermeintliche) Spione
       und Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad ist in vollem Gange.
       Dabei hat sich die Staatspropaganda erkennbar verändert: neben Islamismus
       geht es in der Rhetorik verstärkt um Nationalismus und Patriotismus. Neben
       schiitischen Märtyrern tauchen auf Plakaten und in offiziellen iranischen
       Medien vermehrt Figuren aus der vorislamischen Mythologie auf.
       Nationalistische Hymnen werden aus den Archiven geholt und mit
       schiitischer Konnotation vermengt.
       
       Unmittelbar nach dem Zwölftagekrieg begann in Iran die Jagd auf afghanische
       Flüchtlinge. Das Regime rühmt sich, in diesem Jahr bislang eine Million (!)
       afghanischer Flüchtlinge in den Nachbarstaat deportiert oder vertrieben zu
       haben. Das UNHCR bestätigt diese Zahl. Warum diese vor den Taliban
       geflohenen Menschen nun plötzlich Iran verlassen müssen, dafür liefert die
       Propagandamaschinerie eine lange Liste an Behauptungen. Sogar von Mossad
       und Spionage ist dabei die Rede. Gegen die Remigrationspolitik à la
       Islamische Republik regt sich kaum Widerstand oder Protest im Land. Bei der
       Jagd auf Spione und Kollaborateure der „Zionisten“ ist dieser Tage alles
       gerechtfertigt.
       
       Ist ein „friedlicher“ Übergang zu einer Post-Chamenei-Ära in Iran
       vorstellbar? Wie würde er aussehen? Ein beseitigter Tumor könne immer
       wieder Metastasen bilden, das gelte es zu verhindern, sagte Benjamin
       Netanjahu am 5. Juli 2025 bei einem Dinner mit US-Präsident Donald Trump im
       Weißen Haus in Washington. Tags zuvor hatte Israels Verteidigungsminister
       Israel Katz verkündet, sein Militär werde die Lufthoheit über den Iran
       vorerst behalten.
       
       Trump fügte an, Chamenei und seine islamistischen Anhänger müssten endlich
       aufhören, „Tod Amerika“, „Tod Israel“ zu rufen. Das war nicht einmal im
       Plural gemeint. In Wirklichkeit zielt das auf Chamenei selbst, den Obersten
       Führer, der seit 1989 als religiöses und politisches Oberhaupt Irans
       fungiert und zugleich auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist.
       
       ## Der Brief iranischer Wissenschaftler an die Führung
       
       Kurz nach dem Dinner in Washington listeten 180 iranische
       Universitätsprofessoren in einem offenen Brief an den 2024 zum Präsidenten
       ernannten Massud Peseschkian auf, was der Oberste Führer nun vielleicht tun
       sollte, wolle er eine weitere Katastrophe für das Land abwenden.
       
       Der eigentliche Adressat des Briefes heißt nicht Peseschkian. Doch, ihn,
       Chamenei, Stellvertreter Gottes auf Erden, darf man nicht direkt belehren.
       Die Wissenschaftler zählen unmissverständlich auf, was in dieser
       historischen Situation geschehen müsse. Zunächst setzen sie sich dafür ein,
       „die territoriale Integrität des Landes zu bewahren“. Dann fordern sie ein
       garantiertes Recht auf „Meinungs- und Redefreiheit“. Die „Freilassung der
       politischen Gefangenen und ein Ende der Hausarreste“. Das „Ende des
       Monopols einer kleinen Gruppe auf Radio und Fernsehen“. Die
       „Neuorganisation des gesamten Sicherheitsapparats“ sowie ein „gründliches
       Umkrempeln der Wirtschafts-, Handels- und Währungspolitik, damit die
       systematische Korruption ein Ende findet“.
       
       Am Ende ihres Briefes formulieren die Wissenschaftler sehr deutlich: Ohne
       echte Beteiligung der Bevölkerung und ohne eine völlige Änderung der
       Außenpolitik lasse sich keines dieser Ziele realisieren.
       
       Würde der wahre Briefadressat diesen Forderungen nachkommen, von seiner
       „Islamischen Republik“ bliebe allenfalls eine Hülle übrig. Doch ob die
       Geister, die er in den 36 Jahren seiner Herrschaft um sich sammelte, sich
       so leicht in die einmal geöffnete Flasche zurückpressen lassen? Zumal
       Chamenei selbst als Inkarnation eines Geistes erscheint.
       
       ## Wer will was?
       
       US-Präsident Trump sagt, Iran werde mit ihm verhandeln. In Anwesenheit
       Netanjahus in Washington verkündete er sogar, bald werde sein
       Sondergesandter Steve Witkoff sich auf den Weg nach Teheran machen. Der
       Außenminister des iranischen Regimes, Abbas Araghtschi, antwortete, USA und
       Israel müssten aber zuvor garantieren, sämtliche Kampfhandlungen dauerhaft
       einzustellen. Dann könne man reden.
       
       Donald Trump mag mit Europa vielerlei Probleme haben. Doch was Iran angeht,
       scheinen Europäische Union und USA mittlerweile eine gemeinsame Linie
       gefunden zu haben. Irans Führung wurde eine ultimative Frist bis Ende
       August gesetzt. Lenkt die Führung bezüglich des Atomprogramms nicht ein,
       werden Mechanismen für weitere harte Sanktionen ausgelöst.
       
       [1][Israels Regierungschef Netanjahu] dürfte das alles nicht weit genug
       gehen. Der Iran und Chamenei müssten wie einst Libyen und Gaddafi (2003)
       unter strenger internationaler Aufsicht das gesamte Atomprogramm
       einstellen.
       
       Die Verborgenheit ist eine schiitische Konstante. So soll der zwölfte Imam,
       in dessen Namen Chamenei regiert, seit 1.250 Jahren im Verborgenen
       existieren und weiterhin in der Welt herrschen. So auch Chamenei. Aus
       seinem Versteck heraus erfülle der geehrte Führer seine Rolle als
       Oberbefehlshaber mustergültig, verbreiten die Regime-Medien über ihre
       Webseiten. Doch, ob und wie der 86-Jährige sich nun auf seine völlige
       Verborgenheit vorbereitet, wir wissen es nicht.
       
       Lange dürfte es allerdings nicht mehr dauern, bis die Diadochenkämpfe
       unter den potenziellen Nachfolgern sichtbar werden. Die Revolutionsgarden
       verloren zwar viele ihrer Köpfe. Zu einem großen Krieg mit dem Ausland sind
       sie nicht fähig. Dafür sind sie, die sie sich den Großteil des nationalen
       Reichtums angeeignet haben, im Inneren präsenter denn je. Sie werden
       versuchen, dauerhaft zu bestimmen, wohin die Reise geht.
       
       22 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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