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       # taz.de -- Internationaler Strafgerichtshof: Der Warlord von Bangui
       
       > 2014 erlebte die taz in der Zentralafrikanischen Republik, wie in dem
       > Haus von Patrice Ngaïssona eine Miliz wütete. Jetzt fällt über ihn das
       > Urteil.
       
   IMG Bild: Angeklagt: Patrice Edouard Ngaïssona, hier bei seiner ersten Vorführung in Den Haag am 25. Januar 2019
       
       Kampala taz | Sechzehn Einschusslöcher sprenkelten das grüne Hoftor in
       Bangui. Das Anwesen von Patrice Edouard Ngaïssona, Jugend- und
       Sportminister sowie Chef des Fußballverbandes der Zentralafrikanischen
       Republik (ZAR) war verwüstet. Rebellen der muslimischen Milizenkoalition
       „Séléka“ hatten im März 2013 [1][die zentralafrikanische Hauptstadt Bangui
       erobert] und die Regierung von [2][Präsident François Bozizé gestürzt].
       Bozizé floh ins Nachbarland Kamerun zusammen mit seinen Freunden, darunter
       der einflussreiche Politiker Ngaïssona.
       
       Die Séléka-Kämpfer zerschossen Ngaïssona damals nicht nur das Hoftor,
       sondern plünderten das Warenlager seiner Import- und Export-Gesellschaft,
       räumten die Vorratskammer hinter der Küche aus und stahlen ihm die Matratze
       aus dem Schlafzimmer. Auf dem Fußboden im Wohnzimmer lagen überall
       zerstreut Bilder aus seinem privaten Fotoalbum, als die taz das Anwesen
       erstmals besuchte.
       
       Kein Jahr später war die Herrschaft der Séléka schon wieder vorbei.
       Anstelle der muslimischen Rebellen zogen im Frühjahr 2014 Abertausende
       junge Männer, einige noch Kinder, mit Messern und Macheten durch die
       Hauptstadt, töteten und jagten die muslimische Minderheit, bis fast alle
       Muslime der Zentralafrikanischen Republik getötet oder vertrieben waren. Im
       Leichenschauhaus stapelten sich die Toten. [3][Anti-Balaka] nannten sich
       diese antimuslimischen Milizen, Kurzform für „Anti-Balle-Ak47“, weil sie
       sich einbildeten, ihre Fetische würden sie von den AK47-Kugeln der Séléka
       schützen.
       
       In Ngaïssonas Villa hinter dem grünen Hoftor mit den Einschlusslöchern im
       Stadtviertel Boy-Rabe hatte sich die Anti-Balaka-Führung eingerichtet. Boy
       Rabe war der Wahlkreis des gestürzten Präsidenten Bozizé gewesen, hier
       lebten seine Angehörigen und engsten Anhänger – und von hier aus hatte
       seine Miliz Anti-Balaka ab Ende 2013 Bangui und das Umland mit extremer
       Gewalt zurückerobert und Séléka in die Flucht getrieben.
       
       ## „Das ist unser Gefangener“
       
       [4][Als die taz Ende März 2014 Ngaïssonas Innenhof erneut besuchte],
       schlichen dort junge Milizionäre im Kreis um einen Stuhl herum, Messer in
       den Händen. Auf dem Stuhl saß ein junger Mann in Unterhose und T-Shirt,
       Blutergüsse und tiefe Wunden am Körper: ein Séléka-Anhänger. „Das ist unser
       Gefangener“, sagte Anti-Balaka-Sprecher Gomez Namsio stolz. „Und das ist
       Oberst 12 Puissance (12 Volt), der Kommandant der Anti-Balaka.“
       
       Er zeigte auf einen bulligen Mann im schwarzen Jogginganzug. Mit seiner
       tiefen Stimme brüllte der den Gefangenen an: „Wenn du einer von uns bist,
       dann werden die Kugeln an dir abprallen, wenn ich auf dich schieße.“ Dann
       klingelte ein Telefon. Der Kommandeur zog sein Handy aus der Hosentasche.
       „Der Chef ist dran“, raunzte er und beendete mit einem Handzeichen die
       Scheinexekution. Der „Chef“ am Telefon – war das Ngaïssona?
       
       Unter anderem darüber hat jetzt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH)
       vier Jahre lang verhandelt. Heute fällt in Den Haag das Urteil im
       [5][Prozess gegen Ngaïssona und einen weiteren zentralafrikanischen
       Warlord]. Es sind die ersten Urteile des Weltgerichts über die Verbrechen,
       die die Zentralafrikanische Republik 2013–14 erschütterten und von denen
       sich das Land bis heute nicht erholt hat.
       
       Ngaïssona ist als mutmaßlicher „übergeordneter Koordinator“ der Anti-Balaka
       schlimmster Verbrechen angeklagt: Verbrechen gegen die Menschlichkeit,
       Mord, Folter, Vergewaltigung, Vertreibung sowie Einsatz von Kindersoldaten
       unter 15 Jahren – insgesamt 31 Anklagepunkte.
       
       Mit ihm vor Gericht steht [6][Alfred Yekatom], in der Zentralafrikanischen
       Republik unter dem Kriegsnamen „Rambo“ bekannt. Der ehemalige Armeeoffizier
       und Parlamentsabgeordnete kommandierte laut Anklage zwischen Ende 2013 und
       August 2014 rund 3.000 Anti-Balaka-Kämpfer in der Provinz Lobaye
       südwestlich von Bangui. Er war also ähnlich wie in Bangui Oberst „12
       Puissance“ für die Milizionäre in einer bestimmten Region zuständig. Alle
       Regionalkommandeure erhielten, so die Anklage, Befehle von Ngaïssona im
       Exil.
       
       Yekatom war im Oktober 2018 im zentralafrikanischen Parlament festgenommen
       worden, als er im Plenarsaal mit seinem Revolver das Feuer eröffnete. Kurz
       darauf wurde er nach Den Haag überstellt. Ngaïssona wurde nur wenige Wochen
       später [7][in Paris verhaftet] und ebenso nach Den Haag ausgeliefert.
       Mehrfach war er zuvor in Bangui festgenommen, aber wieder freigelassen
       worden.
       
       Nach dem Scheitern seines Vorhabens, 2015 bei den ersten
       Präsidentschaftswahlen des Landes nach Kriegsende anzutreten, hatte
       Ngaïssona im Sport Karriere gemacht. 2017 wurde der Milizenführer Präsident
       des Fußballverbandes der Staaten des zentralen Afrika und vertrat diesen
       auch beim internationalen Fußballverband Fifa. Zuletzt lebte er in Paris,
       wo seine Familie seit Langem ansässig ist. Am Pariser Flughafen wurde er im
       Dezember 2018 mit IStGH-Haftbefehl gefasst, als er gerade aus Bangui kam,
       und nach Den Haag überstellt.
       
       ## Die Suche nach dem General
       
       Endlich Gerechtigkeit also für die Opfer brutalster Greueltaten in einem
       international wenig beachteten Land im Herzen Afrikas? Das Verfahren war
       von Anfang an schwierig. Denn die Richter wollten vermeiden, nur eine
       Konfliktpartei anzuklagen, also die Anti-Balaka. Jahrelang fahndeten die
       Ermittler nach Anführern der Séléka, um sie ebenfalls zur Rechenschaft zu
       ziehen.
       
       Immerhin, Anfang 2021 ging den Blauhelmen der UN-Mission Minusca bei einem
       Treffen in Bangui [8][Séléka-Kommandant Mahamat Said Abdel Kani] ins Netz.
       Der Oberst war in der Séléka für die Bekämpfung der organisierten
       Kriminalität zuständig gewesen. Er stand in der Hierarchie unter
       [9][Séléka-General Noureddine Adam], der nach dem Rückzug seiner Truppe aus
       Bangui als oberster Anführer der Séléka-Nachfolgeorganisation „Volksfront
       für die Wiedergeburt Zentralafrikas“ (FPRC) weiterkämpfte.
       
       Jahrelang bemühten sich die IStGH-Ermittler vergeblich, General Adam
       habhaft zu werden. Er versteckte sich in Sudan, wo der IStGH keine
       Zuständigkeit hat. Bei seinen Truppenbesuchen in der nordöstlichen Savanne
       der Zentralafrikanischen Republik wurde er von den russischen Söldnern der
       Wagner-Gruppe hofiert, mit denen er damals Diamantengeschäfte betrieb. Er
       ist bis heute auf freiem Fuß, die Russen stützen mittlerweile den
       amtierenden zentralafrikanischen Präsidenten Faustin-Archange Touadéra.
       
       Die größte Herausforderung für die Den Haager Ermittler bestand darin,
       Ngaïssona die Kommandohoheit über die Anti-Balaka nachzuweisen, auch in der
       Zeit, als er sich zum Höhepunkt des Krieges Anfang 2014 nachweislich im
       Exil aufhielt – also per Telefon oder anderen Kommunikationsmitteln. Ein
       Detail war dabei entscheidend: Die Mitgliedsausweise der Anti-Balaka
       beziehungsweise der Séléka.
       
       Denn beide Milizen hatten ihren Truppen ID-Karten ausgestellt: laminierte
       Karten mit Namen, Rang, Funktion und Portraitfoto. Kämpfer und Offiziere
       trugen sie an einem Band sichtbar um den Hals. Darauf waren auch die
       offiziellen Stempel mit Logo und Name der Miliz sowie Unterschriften der
       Milizenführer.
       
       Auf Fotos von Anti-Balaka-Sprecher Namsio, der vor Ngaïssonas grünem Hoftor
       in Boy-Rabe posierte, war die Unterschrift zu erkennen, aber nicht gut zu
       lesen. Es wurde nie eindeutig bestätigt, ob es Ngaïssonas Signatur war. Im
       Fall der Séléka verfügten die Ermittler über bessere Fotos. Sie bewiesen,
       dass General Adam [10][die Ausweise 2013 ausgestellt] hatte, in seiner
       damaligen Funktion als Sicherheitsminister der kurzlebigen
       Séléka.-Regierung.
       
       ## Kein afrikanisches Essen beim Strafgerichtshof
       
       [11][Der Prozess in Den Haag gegen Ngaïssona und Yekatom] begann im Februar
       2021. Fast 80 Zeugen der Anklage und Opfervertreter wurden gehört. Ab
       November 2023 kamen die Zeugen der Verteidigung dran. Im Dezember 2023
       meldete sich Ngaïssona persönlich zu Wort.
       
       „Ich habe sehr gelitten“, klagte er über seine fünf Jahre in der
       Haftanstalt des IStGH. „Das Essen entsprach nicht meiner Kultur“, so
       Ngaïssona. Er habe sich seine afrikanischen Lebensmittel selbst beschaffen
       müssen, das sei teuer gewesen. Zumal habe er seine acht Kinder und sieben
       Enkel jahrelang nicht sehen können, weil diese sich keine Reise nach Den
       Haag leisten konnten. „Ich bin der Einzige, der sich um meine Familie
       kümmert“, so Ngaïssona. Dann wandte er sich direkt an den Vorsitzenden
       Richter: „Ich rate Ihnen, die Haftanstalt selbst zu besuchen – um zu
       erfahren, wie man sich dort fühlt.“
       
       Und schließlich stellte Ngaïssona seine Sicht der Dinge klar: Die
       Anti-Balaka seien Widerstandskämpfer gewesen, die „Frieden bringen
       wollten“, wie er sagte. „Ich habe alles geopfert, um diese verzweifelte
       Jugend zu repräsentieren“, schloss Ngaïssona: „Ich habe niemals an
       irgendwelchen militärischen Aktionen teilgenommen, noch habe ich sie
       finanziert oder Waffen verteilt.“ Als sein Haus von Séléka geplündert
       wurde, habe er alles verloren.
       
       Demgegenüber erklärte Ankläger Kweku Vanderpuye in seinem
       [12][Schlussplädoyer] im Dezember 2024, Ngaïssona habe durch Koordination
       und Finanzierung von Anti-Balaka-Einheiten maßgeblich zu deren Verbrechen
       beigetragen – „wahllose Angriffe auf muslimische Zivilisten als kollektive
       Vergeltung für Verbrechen und Greueltaten der Séléka“. Ngaïssona „wollte
       Macht, ob direkt oder indirekt“, so der Ankläger weiter und forderte für
       ihn 20 Jahre Haft, für Yekatom sogar 22 Jahre.
       
       Ob die Richter in Den Haag den Zentralafrikaner als Opfer ansehen und
       freisprechen, oder als Täter verurteilen und schuldig sprechen – das wird
       an diesem Donnerstagnachmittag verkündet. Von einem „Meilenstein“ der
       Aufarbeitung spricht im [13][Interview mit zentralafrikanischen
       Journalisten] IStGH-Sprecher Fadi El Abdallah. Hunderte von Menschen werden
       in Bangui zu einer Live-Übertragung erwartet.
       
       24 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Zentralafrikanische-Republik/!5067033
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   DIR [4] /Zentralafrikanische-Republik/!5045397
   DIR [5] https://www.icc-cpi.int/carII/yekatom-nga%C3%AFssona
   DIR [6] /Zentralafrika-Milizenchef-in-Haft/!5548530
   DIR [7] /Zentralafrikanische-Republik/!5555994
   DIR [8] /Zentralafrikanische-Republik/!5743251
   DIR [9] /Zentralafrikanische-Republik/!5067033
   DIR [10] /Zentralafrikanische-Republik/!5067292
   DIR [11] https://www.icc-cpi.int/carII/yekatom-nga%C3%AFssona
   DIR [12] https://www.justiceinfo.net/en/140137-last-words-yekatom-ngaissona-trial.html
   DIR [13] https://corbeaunews-centrafrique.org/affaire-yekatom-ngaissona-le-porte-parole-de-la-cpi-decrypte-sur-cnc-les-enjeux-de-ce-jugement-historique/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schlindwein
       
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