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       # taz.de -- Tanzikone Lucinda Childs in Berlin: Sie gleiten durch Zeit und Raum
       
       > Lucinda Childs ist eine Ikone des Postmodern Dance, der ein eigenes
       > Zeitgefühl schafft. Nun war die New Yorkerin im Berliner Radialsystem zu
       > erleben.
       
   IMG Bild: In „Stein“ sind Miki Orihara (vorne) und Lucinda Childs durch eine dünne Membran getrennt, auf die Wellen projiziert werden
       
       Flüchtig ist der Tanz, seine Geschichte fragil. Damit Choreografien
       weiterleben, studieren im besten Fall die Choreograf:innen selbst, oder
       Tänzer:innen einer Aufführung, die Stücke mit einer nächsten Generation
       ein. In Berlin verfolgen die Choreografinnen [1][Sasha Waltz] und
       [2][Constanza Macras] diese Strategie: Beide griffen in diesem Frühjahr
       Stücke wieder auf, mit denen sie in den 1990ern dem Tanztheater eine neue
       Popularität verschafften. Ende letzten Jahres erinnerte das [3][Tanztheater
       Wuppertal mit „Kontakthof – Echoes of ’78“] an eine fast fünfzig Jahre alte
       Choreografie und kam mit denen, die von der Originalbesetzung noch lebten,
       auf die Bühne. Das war nicht nur im Pina-Bausch-Kosmos ein besonderes
       Erlebnis.
       
       Dennoch sind solche Glücksfälle die Ausnahmen. Die prekären
       Produktionsbedingungen in den Compagnien des zeitgenössischen Tanzes lassen
       sie oft gar nicht lange genug existieren, damit eine solche Weitergabe der
       Werke möglich wäre. Das ist als Problem auch den tanzfördernden
       Institutionen bewusst. [4][Die Berliner Festspiele] luden so letztes Jahr
       wiederaufgeführte Stücke von Trisha Brown und Lucinda Childs ein,
       Protagonistinnen einer Erneuerung des Tanzes in den 1970er Jahren in New
       York.
       
       Am Radialsystem Berlin konnte man jetzt vier Tage lang ein weiteres Kapitel
       lebendiger Tanzgeschichte erleben. Das Ensemble Dance On brachte einen
       Abend mit drei kurzen Stücken, die Lucinda Childs in den 1970er Jahren
       entwickelt hatte, heraus, gekrönt von einer Uraufführung: „Stein“. In ihr
       kam die legendäre Choreografin, inzwischen über 80 Jahre alt, selbst auf
       die Bühne, zusammen mit der Tänzerin Miki Orihara, die, 1960 geboren und
       lange Tänzerin bei Martha Graham, selbst tief in den Quellen des modernen
       und postmodernen Tanzes verwurzelt ist.
       
       ## Es gibt Rebellionen auf beiden Seiten
       
       Die Bühne war geteilt durch einen Gazevorhang mit projizierten Bildern von
       Wasser, Meer und Ufersaum. Davor sah man Miki Orihara, mit teils sehr
       gedehnten, tastenden Bewegungen, teils entschiedenen Gesten. Dahinter
       tauchte, fast wie ein Geist, Lucinda Childs auf, kopierte manchmal Oriharas
       Tanz, schien sich manchmal aber auch darüber lustig zu machen. Einzelne
       Sätze aus dem Text von Gertrude Stein, von Lucinda Childs gesprochen und
       größtenteils aus dem Off zu hören, werden zum Kommentar der Situation.
       Stein spielt mit der Sprache, Situationen werden aufgerufen und gleich
       wieder verlassen, ästhetische Fragen werden einen halben Gedanken lang
       verfolgt. Childs und Orihara könnten Zwillinge sein, über die der Text
       nachdenkt, oder Spiegelungen, die Positionen in Vergangenheit und Gegenwart
       besetzen.
       
       Ihr Verhältnis ist aber nicht nur harmonisch, es gibt Rebellionen auf
       beiden Seiten. Vielleicht auch, weil es für niemanden eindeutig sein kann,
       zu erzählen, was und wer sie einmal war. „A play means more. A play means
       more“, diesen Satz aus Gertrude Steins Text schleudert Lucinda Childs am
       Ende wiederholt heraus, zieht damit in langer Bahn über die Bühne. Strafend
       klingt das, aber auch nach der Karikatur einer Kritik, doch bleibt offen,
       was hier zwischen den Tänzerinnen verhandelt wird.
       
       Das Wasser, das im Videobild zwischen ihnen leise Wellen schlägt, und das
       tröpfelnde Sounddesign – beides von dem Videokünstler und Komponisten Hans
       Peter Kuhn –, tragen zum Zerfließen der bedeutungsgebenden Schichten bei.
       Nichts lässt sich festhalten.
       
       Ty Boomershine, 1968 geboren, war Assistent von Lucinda Childs und ist
       heute künstlerischer Leiter des Dance On Ensembles. Das Besondere der
       Compagnie ist, mit älteren Tänzer:innen zu arbeiten, die neben großem
       Können auch langjährige Erfahrung einbringen. Immer wieder entwickeln auch
       junge Choreografen Stücke für Dance On, wie das fantastische
       [5][„Mellowing“, das Christos Papadopoulos 2023] mit ihnen zur Aufführung
       brachte. Ty Boomershine hat mit Dance On aber auch frühere Stücke von
       Lucinda Childs einstudiert, die sie seit vier Jahren im Repertoire haben.
       Auch jetzt wird die Uraufführung „Stein“ begleitet von drei kurzen, sehr
       präzisen Stücken, ohne Musik, die nur mit dem Rhythmus der Schritte einen
       großen Sog entfalten.
       
       Aber diesmal ist Lucinda Childs zum ersten Mal selbst in das Radialsystem
       gekommen. Zwei Tage vor der Uraufführung kann ich sie in einem Hotel
       treffen. Sie erzählt, dass sie ihre Stücke von Dance On getanzt das erste
       Mal in Barcelona gesehen habe. Sie war begeistert von der Aufführung und
       davon, wie hingerissen das Publikum den Tänzen folgte. Die Lässigkeit und
       Eleganz der Bewegungen, die auf dem Gehen basieren, mit kleinen Wendungen,
       die sich bald zu einem komplexen Ineinander entfalten, suggerieren eine
       große Leichtigkeit. Dabei werden doch auch große Strecken zurückgelegt, es
       ist auch eine sportliche Leistung.
       
       ## Loslassen und ausklingen
       
       „Stein“ ist anders als die frühen Stücke, nicht mehr das Fließen der
       Energie steht im Vordergrund, sondern ein Loslassen und Ausklingen. Das Duo
       entstand in diesem Jahr gewissermaßen on the road. Zuerst hat Lucinda
       Childs mit Miki Orihara im Juni in Lyon zusammengearbeitet, dann trafen sie
       für einen Workshop in Le Havre zusammen. Lucinda Childs, die vor Kurzem 85
       Jahre alt wurde, erzählt, dass sie seit Mai nicht mehr zu Hause in New York
       war. Sie reise mit einem großen Koffer. In Europa zu arbeiten, war schon am
       Beginn ihrer Karriere wichtig, als sie 1976 mit Philip Glass und Robert
       Wilson die Oper „Einstein on the Beach“ herausbrachte, auf dem Festival von
       Avignon. Da war sie schon eine Protagonistin des postmodernen Tanzes, der
       einerseits mit einem minimalistischen Bewegungsmaterial auszukommen
       scheint, damit andererseits aber diffizile Strukturen baut.
       
       Sie ist stolz darauf, auch heute noch eine eigene, unabhängige Compagnie zu
       haben und ihre Stücke immer wieder an jüngere Generationen von
       Tänzer:innen zu übergeben. So wie in den Stücken selbst die
       Bewegungsimpulse von einem zum anderen weitergegeben werden. Förderung
       erfahren sie in den USA kaum, und die Situation wird immer schlechter.
       Wichtig waren immer die Reisen über den Atlantik und die Gastspiele in
       Europa.
       
       Warum kann es Zuschauer:innen so glücklich machen, die Tänze von Lucinda
       Childs zu sehen? Sie transportieren etwas Utopisches und Rauschhaftes, sie
       vertreiben das Grübeln und erzeugen einen Raum, in dem es nur auf das Hier
       und Jetzt ankommt. Wenn die Tänzer:innen in Drehungen und Wendungen die
       Linien ihrer Gänge miteinander verflechten und immer komplexere Muster
       entstehen lassen, dann wirkt das auch wie ein sich selbst regulierendes
       soziales Miteinander, das ohne Hierarchien und Führung auskommt und in dem
       alles im Austausch miteinander entsteht. Als hafte diesen Choreografien
       noch etwas vom Geist einer Zeit an, die Klassenschranken in naher Zukunft
       überwunden glaubte und dies im Ästhetischen ausprobierte.
       
       28 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
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