URI: 
       # taz.de -- Das Aktionshaus in Berlin-Tempelhof: Grill dir deinen eigenen Spieß
       
       > In einem Berliner Industriegebiet liegt das Aktionshaus. In diesem
       > Projektraum geht es ums gemeinsame Ausprobieren und die Freude am
       > Provisorischen.
       
   IMG Bild: Lutger Lonins Aktion „Plizza di Strada“ verwandelte das Aktionshaus in ein temporäres „Schnellrestaurannte“
       
       Genug Platz ist jedenfalls da auf den rund 200 Quadratmetern, mitten im
       Tempelhofer Industriegebiet, hoch oben im 8. Stock eines mintgrünen
       Bürobaus aus den 1990er Jahren. Von außen wirkt das Gebäude funktional –
       ein nüchterner Baukasten mit symmetrischen Fensterreihen, zwischen
       Pkw-Verschrottung, Lagerhallen und Stadtautobahn. Zehn Busminuten vom
       S-Bahnhof Hermannstraße entfernt, ist es seltsam ruhig hier, fast
       menschenleer. Wer es nicht besser weiß, würde kaum vermuten, dass es im
       obersten Stock regelmäßig aktionistisch zugeht.
       
       Ein Musik-Fachhandel, in dem man zwischen DJ-Sets Kassetten bespielen und
       eigene Cover drucken kann. Eine Olympiade, bei der es schon vor dem
       Startschuss Medaillen gibt – zum Beispiel fürs möglichst langsame
       Fahrradfahren. Eine Ausstellung, bei der sich die essbaren Kunstwerke
       langsam auflösen.
       
       All das passiert im Aktionshaus: einem Ort, der zu hell ist für einen Club,
       zu nonchalant für eine Galerie. In diesem Projektraum entsteht immer wieder
       Neues, weil alle mitmachen dürfen. Nicht nur die Lautesten oder die mit dem
       schönsten Bild. Es geht es ums Ausprobieren, ums gemeinsame Tüfteln und um
       die Freude am Provisorischen. Hauptsache, es wuselt.
       
       In den Aufzug steigen lohnt sich: Panoramaausblick, charmantes Turmzimmer
       und richtig viel Platz. Obwohl [1][das Aktionshaus] alles andere als ein
       Penthouse ist, hat der Raum auf den ersten Blick etwas Luxuriöses. Von
       drückender White-Cube-Stille jedoch keine Spur – dafür sorgen wild
       bepflanzte Blumenkästen auf dem Balkon, ein getigertes Retro-Rundsofa in
       der Ecke und der Duft von frisch gegrilltem Gemüse und Sauerteigbrot, der
       hier an einem Frühsommertag vom Balkon aus in den Raum schwebt.
       
       ## Manchmal wollen Leute ihre Schuhe ausziehen
       
       Charlotte Kehl und Juri Bader flirren an diesem sonnigen Samstag zwischen
       nostalgischer Minibar, kleinen Gesprächsinseln und Balkon-Grillstation hin
       und her.
       
       Gemeinsam leiten sie den Projektraum. An besagtem Samstag haben sie ihn mit
       spürbarer Detailverliebtheit in einen Infopoint für Besucher*innen von
       umliegenden Künstler*innen-Studios verwandelt. Die wenigen, ausgewählten
       Möbelstücke stammen entweder aus dem Familienerbe oder wurden über
       Kleinanzeigen ersteigert. Und dann ist da noch ein massives Soundsystem,
       das später am Abend von Künstler Yab mit experimenteller Elektromusik
       bespielt wird. Musik ist im Aktionshaus mehr als nur akustische Untermalung
       – sie verbindet. Ob durch Live-Acts oder mit der Leidenschaft für analoges
       Produzieren, die von Bader betriebenen Labels Beatbude und Tax Free Records
       sind fester Bestandteil fast aller Aktionen.
       
       Obwohl es im Aktionshaus regelmäßig laut wird, strahlt der Raum etwas
       Leises, Liebes aus. „Manchmal wollen Leute ihre Schuhe ausziehen“, erzählt
       Bader fast ein bisschen stolz. Besonders für introvertierte Personen sei
       die Kulturbranche oft herausfordernd – viele Begegnungen blieben
       oberflächlich: „Wir wollen keine klassische Vernissage-Situation, wo Kunst
       konsumiert wird, man wieder geht und sich nicht verbunden hat.“ Stattdessen
       soll das Gefühl vermittelt werden, jederzeit mitgestalten zu können. Auch
       an diesem Tag gibt es kleine, partizipative Baustellen im Aktionshaus:
       „Grill dir deinen eigenen Spieß oder entdecke die Umgebung mit dem
       Fernglas.“ Auf bunten Papieren können Eindrücke notiert und Fragen
       ausgetauscht werden.
       
       Die Idee zum Aktionshaus entstand inmitten der Corona-Pandemie – einer
       Zeit, in der es physische Räume zum gemeinsam Lautsein und Kreativwerden
       nicht geben durfte. Damals feilten Charlotte Kehl und Jana Maria Dohmann,
       die späteren Gründerinnen, an einem Konzept für die „Tummeltage“, einer
       alternativen Olympiade für Kinder. Dem klassischen Wettkampf sollte ein
       offenes, humorvolles Fest entgegengesetzt werden. In mehrtägigen Workshops
       erarbeiteten Kinder gemeinsam mit Künstler*innen absurd-liebenswerte
       Disziplinen. Zum Beispiel eine menschliche Version von „Schiffe versenken“
       – mit kleinen, auf dem Volleyballfeld verteilten Stühlchen und einem
       selbstgenähten Vorhang, der über das Netz gespannt wurde. Ohne das
       gegnerische Team zu sehen, sollten kleine Wasserbomben auf die jeweils
       andere Seite des Spielfeldes bugsiert werden. Im Sommer 2023 wurden die
       „Tummeltage“ als erste Outdoor-Aktion des frisch gegründeten Aktionshauses
       umgesetzt. Wie bei allen Aktionen sollte ein Alltagsproblem – hier
       Konkurrenz – künstlerisch mit Neugier und Improvisation herausgefordert
       werden.
       
       ## Ein selbstständiger Organismus
       
       Mit ihrem Programm verfolgen Kehl und Bader eine klare Vision: Bewusst
       kuratieren sie nicht-normative Perspektiven, um unsichtbare Barrieren im
       Kunstbetrieb zu durchbrechen und gleichberechtigte Teilhabe zu fördern.
       Besonders wichtig sind ihnen ungehörte Stimmen, etwa die von Kindern.
       [2][Erfahrungswissen soll genauso viel Platz haben] wie akademisches
       Wissen. Ziel ist das gemeinsame Erforschen – und nicht irgendein statisches
       Endprodukt. [3][Kunst in Aktion eben.]
       
       Meistens quartieren sich die Künstler*innen vor ihren Aktionen etwa eine
       Woche im Raum ein. Dabei dürfen sie wild schalten und walten, Wände
       anmalen, oder Löcher in die Wand bohren. Bader und Kehl lassen bewusst
       kreativen Spielraum, unterstützen aber mit ihren eigenen Erfahrungen und
       Ideen: „Wir haben dafür kein genaues Schema, sondern fühlen uns rein. Das
       dauert und ist aufwändig.“ Aber es lohnt sich.
       
       Jede Aktion überrascht mit einem neuen Bühnenbild. Im Juni 2023 verwandelte
       sich der Raum durch den Künstler Lutger Lonin zum Beispiel in ein schrilles
       Pizza-„Schnellrestaurannte“. In Aktion standen nicht nur die Menükarte
       (gleichzeitig eine Buchveröffentlichung), sondern auch die Gäste, die
       pünktlich um 18 Uhr bereit für ihre Pizza- und Rotweinbestellungen waren:
       „Es ist ein selbstständiger Organismus, der funktioniert, weil alle
       mitmachen“, sagt Bader. „Ohne die Leute wäre es niemals so schön gewesen.“
       
       Wie bei allem im Aktionshaus gilt: Wer eine Aktion machen will, packt von
       vorne bis hinten mit an – Freund*innen inklusive. Für Bader fühlt sich
       das fast familiär an: „Die gemeinsame Verantwortung macht was mit dem Raum,
       man fühlt sich weniger verloren – ein bisschen wie in einer WG.“ Auch wenn
       genau dieses Gemeinschaftsgefühl das Aktionshaus ausmacht, verstecken sich
       dahinter alt bekannte [4][Probleme]. Der Raum soll nicht-kommerziell sein,
       wird aber von Menschen geführt, [5][die ihren Lebensunterhalt verdienen
       müssen]: „Es ist total irre, sowas hier zu machen, so hobbymäßig im
       Ehrenamt.“ Mit Blick auf die Kulturkürzungen ergänzt Kehl: „Es ist traurig,
       dass man einerseits als Aushängeschild benutzt wird – auf diese
       kapitalistische Weise – und andererseits überhaupt nicht davon profitiert.
       Nachhaltig ist das nicht.“
       
       Trotz aller Mühen strahlen die beiden, wenn sie von besonderen Momenten im
       Aktionshaus erzählen. Bei unserem zweiten Gespräch sitzen wir wieder auf
       dem Balkon und blicken auf die trist-romantische Industrielandschaft. Die
       Stimmung ist gediegen, heute mal keine Aktion im Gange. Nur in der Küche
       wird Kaffee gekocht und zum Spätstück gibt’s Schoko- und Honigwaffeln,
       liebevoll drapiert mit einem pinken Lolli. Tatsächlich fühlt es sich ein
       bisschen nach gemütlicher WG an – einem Ort, an dem Alltag und Kreativität
       zusammenkommen und immer frischer Wind weht.
       
       27 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://aktionshaus.berlin/
   DIR [2] /Finanzielle-Unsicherheit-in-der-Kunst/!6091370
   DIR [3] /Zukunft-der-Kultur/!6081577
   DIR [4] /Gosia-Lehmanns-Schau-ueber-Kunst-und-Geld/!6093493
   DIR [5] /Kuratorengruppe-ueber-Off-Szene-in-Berlin/!6080631
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Emilia Papadakis
       
       ## TAGS
       
   DIR Aktionskunst
   DIR Berlin
   DIR zeitgenössische Kunst
   DIR Tempelhof-Schöneberg
   DIR Kunst
   DIR Achtsamkeit
   DIR Lesung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kunstausstellung im Freibad: Parasitärer Glamour am Beckenrand
       
       Im Projektraum Tropez in Berlin-Wedding, mitten im Sommerbad, mischt sich
       die Kunst unter die Badenden. Wie wird sich hier begegnet?
       
   DIR Daueraustellung im Bode-Museum Berlin: In der Ruhe liegt die Kraft
       
       Die neue Dauerstellung „Das heilende Museum“ im Berliner Bode-Museum
       verbindet Kunstgenuss mit Meditation und Wissenschaft. Eine Studie dazu
       läuft an.
       
   DIR Lesereihe in Berliner Spätis: Einmal Poesie, bitte
       
       Mit vier Lesungen bringt das Berliner Kollektiv „Open Späti“ mehrsprachige
       Poesie in den Alltag – zwischen Kühltruhe und Tabakwaren.