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       # taz.de -- Die Wahrheit: Gesummse auf dem Abort
       
       > Rettet die Fruchtfliege! Eine Tierschutzinitiative fordert, Heiminsekten
       > unter Naturschutz zu stellen und nicht als Plagegeister zu
       > diskreditieren.
       
   IMG Bild: Eine friedliche Koexistenz mit Fliegen ist das große Ziel
       
       „Die spinnen doch“, sagt Obsthändler Nikos Santanos an seinem Marktstand
       und wedelt sich ein paar Fruchtfliegen aus dem Gesicht. Unter der rotgelben
       Plane sind es sicher über 40 Grad, ein süßlich-fauler Geruch liegt in der
       Luft. „Aber wenn sie meinen. Meine können sie alle mitnehmen.“ Er deutet
       auf einen Abfalleimer mit verdorbenen und angestoßenen Früchten hinter ihm.
       Er tritt sanft dagegen: Sofort erhebt sich eine schwarze Wolke aus kleinen
       Fliegen.
       
       Norman Schüller und Merle Sophie Wichmann würden auf den Handel vielleicht
       eingehen. Sie sind die Verfasser*innen der „Roten Liste der
       Hausinsekten“, publiziert im Frutarischen Netzwerk der Veganen Volksfront
       Berlin. Dort ist nun auch die „Schwarzbäuchige Taufliege“ (Drosophila
       melanogaste) verzeichnet, wie das Insekt mit Vor- und Zunamen heißt. Neben
       der Stubenfliege Musca domestica, sind auch Schnaken (Tipulidae),
       Trauermücken (Sciaridae) oder die Blaue Schmeißfliege (Calliphora vicina)
       aufgelistet. Alle Arten werden mit süßen Cartoons und pfiffigen Kurztexten
       vorgestellt. „Fruchtfliege, Stubenfliege, dicker Brummer“ ist die als PDF
       verbreitete Broschüre überschrieben. Sie will für ein besseres
       Zusammenleben von Mensch und Heiminsekt werben.
       
       „Denn man muss es so sehen“, begründet Norman ihre Initiative. „Mensch und
       Insekt leben seit Jahrtausenden in enger Symbiose. Die Stubenfliege
       begleitet den Menschen schon länger als etwa Hund oder Katze. Und das war
       gut so. Sie zeigte den Menschen an, wo ein Luftzug weht oder wies
       zuverlässig den Weg zum Abort.“
       
       Doch der Städtebau mit seiner modernen Architektur mache den Insekten zu
       schaffen. Immer mehr Häuser und Büros sind vollklimatisiert und würden
       nicht mehr natürlich belüftet. „Die Luft wird auf die Weise quasi
       organismenfrei!“, beklagen die selbst ernannten Insektenschützer. „Und
       selbst wenn, geht es immer nur um Vergrämung und Vernichtung“, entrüstet
       sich Merle. „Klebefallen, an denen die Tiere noch stundenlang zappeln!
       Millionen von Obstfliegen fallen alltäglich dem Staubsaugergenozid zum
       Opfer!“
       
       ## Merz und Fliege
       
       „Dabei können uns Fliegen gute Dienste leisten. Denken sie nur an die
       Studiofliege bei ‚Maischberger‘, die sich kurz vor seiner umstrittenen
       ‚Zirkus‘-Äußerung auf Friedrich Merz' Lippe gesetzt hatte. Die wusste
       sofort, dass da jetzt Mist rauskommen würde“, ist Norman überzeugt.
       „Fliegen sind klug, die spüren so etwas.“ Die beiden starteten sofort eine
       Petition „Rettet die Studiofliege“. Sie hat inzwischen über 13.000
       Unterstützer*innen.
       
       Auch neue Ernährungsgewohnheiten machten den Insekten zu schaffen. „Die
       Menschen essen immer weniger Obst!“, bedauert Merle. „Doch ein
       Frucht-Smoothie aus dem Glas, das sofort ausgespült ins Altglas wandert,
       vernichtet ein ganzes Habitat.“
       
       Problematisch seien auch die Tierversuche an der Drosophila. Ihr Genom ist
       vollständig entschlüsselt. „Nun wird sie für gentechnische Experimente
       missbraucht!“, echauffiert sich Norman. „Dabei hat sie eines der
       rätselhaftesten Lebenszyklen dieses Planeten.“
       
       Besonders fasziniert ihn, wie Fruchtfliegen es schaffen, sich innerhalb
       eines Wimpernschlags vieltausendfach zu vermehren. „Du guckst auf den
       Obstkorb, guckst weg, guckst wieder hin – zack! Überall Obstfliegen! Ist
       das nicht geil? Das schafft kein anderes Lebewesen dieser Welt.“
       
       Nicht umsonst galt in frühen Kulturen die Obstfliege als
       Fruchtbarkeitssymbol, berichtet er. Steinzeitliche Zeichnungen legten das
       nahe. „Das waren keine Ufos, das waren Fruchtfliegen.“
       
       Doch wie stehen die beiden dazu, dass Fruchtfliegen und andere Insekten in
       der Wohnung als lästig wahrgenommen werden? „Es steht uns Menschen nicht
       zu, Mitgeschöpfe als Plagegeister zu klassifizieren“, sind die beiden
       überzeugt. „Das ist Speziesismus. Tierrechtlich unterscheidet eine
       Stubenfliege nichts von einem Delfin oder Orang-Utan.“
       
       ## Schlaf oder Tod
       
       Deshalb konnten die überzeugten Frutarier auch Peta gewinnen, ein Motiv
       ihrer aktuellen Plakatkampagne der Insektenwelt zu widmen. Darauf sehen wir
       einen dicken schwarzen Brummer regungslos auf einer Blumenbank liegen: „Am
       Schlafen oder tot?“ – „Die Fliegenklatsche ist das Bolzenschussgerät des
       kleinen Mannes“, lesen wir zu diesem Plakat bei peta.de.
       
       Merle und Norman werben für eine friedliche Koexistenz mit den Insekten.
       „Wir empfehlen, in jeder Küche immer einen halben Pfirsich aufs
       Fensterbrett zu legen. Oder wenn einem das zu irgendwie lästig ist, dann
       halt oben auf den Küchenschrank.“
       
       Doch Obstfliegen sind längst nicht das einzige Heiminsekt, das unter Stress
       steht. „Die Trockenheit im Sommer setzt auch den heimischen Stechmücken
       (Culicidae) sehr zu“, weiß Norman zu berichten. Infolge des Klimawandels
       komme es vermehrt zu Waldbränden, die ganze Bestände ausrotteten. Sümpfe,
       Uferzonen und Schlammlöcher, die klassischen Brutgebiete, trockneten aus.
       Resilientere Arten wanderten ein, die asiatische Tigermücke zum Beispiel.
       „Wir empfehlen Gartenbesitzer*innen daher, einen kleinen Schlammpfuhl
       anzulegen.“
       
       Er habe es in seinem Kleingarten so gemacht. Natürlich werde er nun ab und
       zu gestochen, aber das sei halt Natur. Schwerer zu schaffen machten ihn die
       Watschen der anderen Kleingärtner.
       
       Eine Tierart vermissen wir in dem Faltblatt der Initiative allerdings. Wie
       sieht es mit dem friedlichen Zusammenleben mit Hausspinnen aus? Norman
       schaut beschämt zu Boden, und Merle wird bleich. „Nein“, schüttelt sie
       sich. Da habe sie eine schwere Phobie.
       
       30 Jul 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Volker Surmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Insekten
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