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       # taz.de -- Wahl zur Verfassungsrichterin: Wie konnte das passieren?
       
       > Frauke Brosius-Gersdorf ist eine qualifizierte Rechtswissenschaftlerin.
       > Sie sollte zur Bundesverfassungsrichterin gewählt werden. Kein großes
       > Ding. Eigentlich.
       
   IMG Bild: Die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf in der Fernsehsendung Markus Lanz am 15. Juli
       
       Frauke Brosius-Gersdorf haben die vergangenen Wochen zugesetzt. Das ist
       deutlich zu erkennen, als die Rechtsprofessorin [1][am Dienstagabend im
       Fernsehstudio von Moderator Markus Lanz] sitzt. Sie erzählt von
       Diffamierungen, von Falschbehauptungen und von Drohungen, die sie und ihre
       Familie erhalten. Per E-Mail, per Post. „Ich musste vorsorglich meine
       Mitarbeitenden bitten, nicht mehr am Lehrstuhl zu arbeiten“, erzählt die
       Verfassungsrechtlerin der Universität Potsdam.
       
       Wie konnte es so weit kommen? Wie kann es sein, dass eine hoch angesehene
       Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht [2][in einer Talkshow beteuern
       muss, sie sei keineswegs „linksradikal“], sondern vertrete „absolut
       gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft“?
       
       Es begann als Routinevorgang: Um drei Posten am Bundesverfassungsgericht
       nachzubesetzen, schlug die Union turnusgemäß einen Kandidaten, die SPD zwei
       Kandidatinnen vor – den Vorsitzenden Richter des Bundesarbeitsgerichts
       Jürgen Spinner und die Rechtsprofessorinnen Ann-Katrin Kaufhold und Frauke
       Brosius-Gersdorf. In der Koalitionsspitze einigte man sich auf das Paket,
       auch im Wahlausschuss des Bundestags bekamen alle drei die nötige
       Zweidrittelmehrheit. Die Wahl am vorvergangenen Freitag im Parlament schien
       eine Formalie.
       
       Dann aber rebellierte die Unions-Fraktion: 50 bis 60 Abgeordnete sollen
       nicht bereit gewesen sein, Brosius-Gersdorf zu wählen. Just am Wahltag
       wurden außerdem – inhaltlich kaum haltbare – Plagiatsvorwürfe gegen die
       Rechtswissenschaftlerin bekannt. Für Unions-Fraktionschef Jens Spahn ein
       willkommener Vorwand, um die Wahl von der Tagesordnung zu streichen.
       Entscheidender Motor dieser Eskalation: eine konzertierte
       Verleumdungskampagne.
       
       ## Tausende E-Mails, Petitionen, Schmähungen
       
       Eine [3][Allianz aus rechten bis extrem rechten Medien, der AfD und
       radikalen Abtreibungsgegner*innen] hatte in Tausenden E-Mails an
       Abgeordnete, mit Petitionen und mit Schmähungen bereits tagelang Stimmung
       gegen Brosius-Gersdorf gemacht. Der Juristin wurde vorgeworfen,
       Abtreibungen bis kurz vor der Geburt legalisieren und dem Fötus kein
       Lebensrecht zugestehen zu wollen.
       
       Der Bamberger Erzbischof Herwig Gössl nannte die Nominierung von
       Brosius-Gersdorf einen „innenpolitischen Skandal“ und sprach von einem
       „Abgrund der Intoleranz und Menschenverachtung“. – „Das finde ich infam“,
       sagte die Juristin dazu bei „Markus Lanz“. Das Gegenteil sei wahr. Sie habe
       auf Dilemmata in der aktuellen Rechtslage hingewiesen und Lösungsvorschläge
       gemacht. Und: Ihre Positionen dazu seien seit Langem für jeden öffentlich
       einsehbar.
       
       Das ist nicht zu bestreiten. Die Ampelkoalition hatte die
       Verfassungsrechtlerin als eine von 18 Expert*innen in eine „Kommission
       zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ berufen.
       Konservative und Kirchen bemängelten damals, die Kommission sei „einseitig“
       besetzt, die Ampel mache sich „ihre eigene Ethik“. Das wiesen die
       Expert*innen stets von sich. Ein Jahr lang prüften sie die Positionen,
       Forderungen und Bedenken zahlreicher zivilgesellschaftlicher und
       politischer Akteure – auch der Union.
       
       Seit April 2024 ist der Abschlussbericht öffentlich: Die [4][grundsätzliche
       Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen sei „nicht haltbar“]. Die
       Kommission plädierte aber keineswegs für legale Abbrüche bis kurz vor der
       Geburt, sondern nur in den ersten zwölf Wochen. Späte Abbrüche sollten
       verboten bleiben, dazwischen habe der Gesetzgeber „Handlungsspielräume“.
       
       ## Keine linke Aktivistin
       
       „Das Grundgesetz schützt das Recht auf Leben nicht erst für den Menschen
       nach der Geburt, sondern auch für Embryonen im Mutterleib“, sagte
       Brosius-Gersdorf damals. Das Lebensrecht habe aber vor der Geburt nicht das
       gleiche Gewicht wie danach. Ginge man von einem „gleichen Lebensrecht des
       geborenen und des ungeborenen Lebens“ aus, so die Verfassungsrechtlerin,
       dann wären „Konflikte ‚Leben gegen Leben‘ gar nicht lösbar“. Selbst ein
       Abbruch bei Lebensgefahr für die Schwangere wäre rechtswidrig.
       
       All das referiert Brosius-Gersdorf nun wieder. Sie erklärt gegenüber Lanz
       ihre ebenfalls in der Kritik stehenden Positionen zur Corona-Impfpflicht
       oder zur Prüfung eines AfD-Verbots. Und sie verweist auf ihre Arbeit in
       anderen Bereichen, mit der sie der Union mitunter näher stehen dürfte als
       linken Positionen – wenn sie etwa vorschlägt, die Rente mit 63 abzuschaffen
       oder die Sanktionen beim Bürgergeld zu verschärfen.
       
       Wer einen kurzen Blick auf ihre wissenschaftliche Vita wirft, dem dürfte
       klar sein, dass Brosius-Gersdorf keine linke Aktivistin ist. 2017 schrieb
       sie für die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung ein Gutachten über
       Privatschulen. 2018 lud die Union Schleswig-Holstein sie als
       Sachverständige in den Rechtsausschuss ein. 2023 erstellte sie für den
       Katholischen Krankenhausverband ein Gutachten zur Krankenhausfinanzierung.
       Von 2015 bis 2024 war sie stellvertretende Richterin am Verfassungsgericht
       in Sachsen, gewählt mit breiter Mehrheit – auch von der CDU. Von
       Berührungsängsten damals keine Spur.
       
       ## Rebellen auf dem Baum
       
       Das Ringen um die Deutungshoheit geht nun weiter. Die SPD hält an der
       Kandidatin fest, hat ihr die Unterstützung zugesichert. In einem offenen
       Brief kritisierten mehr als 300 Rechtswissenschaftler*innen, darunter
       ehemalige Verfassungsrichter*innen, den Umgang mit ihr scharf. „Frauke
       Brosius-Gersdorf gehört ins Verfassungsgericht“, [5][fordert eine
       Petition]. „Wer Brosius-Gersdorf angreift, stellt sich nicht nur gegen
       eine erfahrene Juristin, sondern auch gegen den Grundsatz der unabhängigen
       Justiz.“ Binnen eines Tages unterschrieben mehr als 100.000 Menschen.
       
       Mittlerweile hat sich der Vorsitzende der katholischen Deutschen
       Bischofskonferenz, Georg Bätzing, zu Wort gemeldet und Brosius-Gersdorf in
       Schutz genommen. „Die Frau hat es nicht verdient, so beschädigt zu werden“,
       sagte er gegenüber der Augsburger Allgemeinen. Auch Erzbischof Gössl aus
       Bamberg hat nach einem Telefonat mit der Juristin eingeräumt, „falsch
       informiert“ gewesen zu sein.
       
       Die rebellierenden Abgeordneten der CSU und der CDU machen indes noch keine
       Anstalten, von ihrem Baum herunterzukommen. Und auch die begleitende
       Medienkampagne läuft weiter. Stimmung wird nun auch gegen die zweite
       SPD-Kandidatin für das Amt der Bundesverfassungsrichterin, Ann-Katrin
       Kaufhold, gemacht.
       
       Die profilierte Juraprofessorin von der Universität München, die
       insbesondere zu Verwaltungs- und Klimarecht arbeitet, wird von rechten
       Onlinemedien und AfD-Politikern als „grüne Klimaaktivistin“ mit
       „ideologischer Agenda“ bezeichnet, ihre Nominierung als „gefährlich für die
       Demokratie“. Ihr wird vorgeworfen, sie wolle den Klimaschutz mithilfe von
       Gerichten durchsetzen und sei eine Enteignungsbefürworterin. Dass beide
       Juristinnen die Prüfung eines AfD-Verbotsverfahrens befürworteten, wird von
       dem AfD-nahen Juristen Ulrich Vosgerau gar als „Staatsstreich“ bezeichnet.
       
       ## Was macht das mit uns?
       
       Es gehe längst nicht mehr nur um sie, sagte Brosius-Gersdorf bei „Markus
       Lanz“. Sondern darum, was passiere, wenn solche Kampagnen sich
       durchsetzten, „was das mit uns macht, mit dem Land macht, mit unserer
       Demokratie“. Sobald aber ein Schaden für das Bundesverfassungsgericht drohe
       oder eine Regierungskrise, werde sie an ihrer Kandidatur nicht festhalten,
       sagte sie. Und räumte damit jene Option ein, auf die die Union seit Tagen
       drängt.
       
       Zeitgleich zu dem öffentlichen Auftritt von Brosius-Gersdorf im ZDF ist
       Bundesforschungsministerin Dorothee Bär (CSU) bei „Maischberger“ zu Gast.
       Dort sagt sie, sie respektiere es, wenn Abgeordnete der Union die Wahl der
       Juristin nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten, und „erwarte aber
       auch von der Kandidatin, dass sie mal für sich selbst überlegt, ob sie die
       Richtige ist“. Während Brosius-Gersdorf von den Drohungen berichtet, die
       sie erhält, sagt Bär, sie erwarte „ein bisschen Resilienz“, nämlich dass
       man „auch kritikfähig“ sein müsse, wenn man sich ins höchste deutsche
       Gericht wählen lassen wolle.
       
       🐾 Um die Richter:innenwahl und rechte Kulturkämpfe geht es auch im
       Bundestalk, dem politischen Podcast der taz. Zu hören auf
       [6][taz.de/bundestalk].
       
       18 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Brosius-Gersdorf-wehrt-sich/!6098146
   DIR [2] /Verschobene-Richterwahl/!6098263
   DIR [3] /Rechte-Hetze-gegen-Brosius-Gersdorf/!6097369
   DIR [4] /Schwangerschaftsabbrueche-in-Deutschland/!6000620
   DIR [5] https://innn.it/frauke-brosius-gersdorf-gehort
   DIR [6] /Richterinnenwahl-/!6100936
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dinah Riese
   DIR Amelie Sittenauer
       
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