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       # taz.de -- Karl-May-Spiele in Bad Segeberg: Antirassismus für alle
       
       > Bei der Aufführung von Karl Mays „Halbblut“ in Bad Segeberg treten große
       > Gefühle zutage. Warum das auch für woke Kritiker*innen erfreulich
       > ist.
       
   IMG Bild: Wenn er spricht, hören alle zu: Alexander Klaws als Winnetou im Freilichttheater am Kalkberg in Bad Segeberg
       
       Kurz vor Bad Segeberg schalten wir das Navi ab und lassen uns vom
       Parkleitsystem führen. „Ignorieren Sie, sobald Sie unsere LED-Tafeln sehen,
       bitte Ihr Navi!“, stand in der E-Mail des Veranstalters. Machen wir.
       Persönliches Navi aus, ab sofort leiten lassen: So funktioniert das hier.
       Nicht nur bei der Anfahrt, sondern auch später im Theater.
       
       Würde das persönliche Navi noch laufen, dann gäbe es viel nachzudenken.
       Über [1][die Rassismen und Stereotype] in Karl Mays Werk. [2][Über Sinn und
       Unsinn von Karl-May-Theateraufführungen]. Und über kulturelle Aneignung,
       weil es gleich weiße Europäer sein werden, die sich als Native Americans
       verkleiden, sich „Indianer“ nennen und sich herausnehmen, eine erfundene
       Geschichte über sie zu erzählen.
       
       Aber das Navi ist aus und der Weg zum Freilufttheater führt durch ein
       Wohngebiet, vorbei am Restaurant „Zum Wilden Westen“, vorbei an einem
       Totempfahl und Verkaufsbuden am Straßenrand: Getränke, Popcorn,
       Regenponcho. Es wirkt, als hätten die Nachbarn mal eben einen Stand
       aufgebaut.
       
       Beim Einlass in das Amphitheater passiert etwas Ungewöhnliches: Die Taschen
       bleiben unkontrolliert. Es ist ausdrücklich erlaubt, Verpflegung und
       Getränke mitzubringen. Also packen die Leute in den Sitzreihen Kuchen und
       Chips aus. Offenbar sind viele nicht zum ersten Mal hier.
       
       Überhaupt die Leute: Manche haben sich das Gesicht bemalt und tragen auf
       dem Kopf einen Pappring mit Feder. Manche tragen einen Cowboyhut, die
       Männer in Braun, die Frauen in Pink. Aber die meisten sind einfach so da.
       Und dann erhebt sich eine Stimme aus den Lautsprechern und begrüßt alle mit
       dem schlauen Satz: „Willkommen in der Traumwelt von Karl May.“
       
       Eine Traumwelt also – [3][das entlastet vom Humbug-Vorwurf, den sich Karl
       May gefallen lassen muss]. Dem Vorwurf, etwas als wahr zu verkaufen, was
       nur ausgedacht, zurechtgebogen und aus Klischees gespeist ist.
       
       Das Stück heißt „Halbblut“ und basiert lose auf dem gleichnamigen Roman.
       Mit dabei sind Winnetou und Old Shatterhand in der Ausgestaltung, in der
       sie in den Filmen der 1960er Jahre berühmt wurden. Auch die anderen Figuren
       sind alte Bekannte: der Bösewicht, der Stammeshäuptling, der trottelige
       Professor.
       
       Sofort ist klar: Das hier ist nicht nur Theater, es ist auch Zirkus und
       Jahrmarkt. Es gibt Pferdeakrobatik und Clownerien, spektakuläre
       Showkämpfe und einen Adler, der über den Köpfen der Zuschauer*innen
       fliegt. Hinzu kommen Pyrotechnik und Schusswaffengeknalle. Und eine
       Eisenbahnbrücke, die zerbricht – mit einer Lokomotive darauf.
       
       Winnetou hat seinen ersten Auftritt auf dem Pferd, reitet durch die Reihen
       der Zuschauer*innen, es wird die berühmte Filmmelodie eingespielt und es
       geht ein Raunen durch die Reihen. Den Menschen geht das Herz auf, [4][weil
       Winnetou der Held ihrer Kindheit ist], eine Lichtgestalt ohne Brüche.
       Traumwelt eben.
       
       Trotz des Popcorns folgen die Menschen konzentriert der Geschichte, in der
       der weiße Bösewicht und der böse Comanchen-Häuptling einander umbringen
       wollen. Winnetou bekehrt den Häuptling, bestraft den Bösewicht und rettet
       den Enkel des Häuptlings, der als Sohn einer Comanchen-Mutter und eines
       Siedler-Vaters zwischen die Fronten geraten ist.
       
       Gleich zwei Ansprachen hält Winnetou zum Thema Antirassismus und
       Völkerverständigung und bekommt Applaus vom Publikum. Davor haben alle
       gelacht über den Bösewicht, der sich das N-Wort verkneift und sagt: „Man
       darf heute ja nicht mehr sagen, was man denkt.“ Und über den Spruch, dass
       man irgendwann mal Präsident der USA werden könne, wenn man seine Lügen nur
       so lange wiederholt, bis alle glaubten, sie seien wahr.
       
       Wenn man so will, dann besteht auch Karl Mays Werk aus Lügen, die
       wiederholt werden, bis alle sie glauben. Allerdings taugen die
       Karl-May-Lügen hier auch dazu, dass sich die rund 7.500 Zuschauer*innen
       zumindest situativ auf Antirassismus einigen können.
       
       Man denkt: Wenn alle, die nach Winnetous Antirassismus-Ansprachen
       klatschen, nicht (mehr) AfD wählen, dann wäre viel gewonnen. Also ist es
       vielleicht so mit dem Schaden und Nutzen von Karl May: Das nudelt sich aus.
       Ein erfreuliches Unentschieden. Zumindest aus der Perspektive des woken
       weißen Mannes.
       
       21 Jul 2025
       
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