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       # taz.de -- Wasser trinken: Die Religion der Hydration
       
       > „Trink Wasser“ war früher ein guter Rat – heute tragen Menschen ihre
       > Trinkflaschen wie Heiligtümer. Wann ist aus einem Bedürfnis ein Fetisch
       > geworden?
       
   IMG Bild: Immer mehr Ärzte geben zu, dass kaum ein Mensch zwei Liter Wasser am Tag braucht
       
       Zum Glück ist die [1][Hitzewelle] erst mal vorbei. Das folgende
       gesellschaftlich heikle Thema kann nur bei gemäßigten Temperaturen
       angegangen werden. Um einem Sturm der Entrüstung vorzubeugen, stelle ich
       vorauseilend klar:
       
       Es ist wichtig, während der Hitzetage genug zu trinken. Und wahrscheinlich
       ist es auch angebracht, dass wir alle täglich in allen Medien darauf
       hingewiesen werden. Es kann ja durchaus sein, dass es Leute gibt, ältere
       Menschen, die davon noch nichts gehört haben, oder eben daran erinnert
       werden müssen. Ich gebe zu: Wasser trinken ist bei großer Hitze wichtig.
       
       Trotzdem bestehe ich darauf, dass „Wasser trinken“ in den letzten Jahren zu
       einer Art Religion für die jüngeren Generationen geworden ist. Sie haben
       auch bei kühlem Wetter ständig Angst zu verdursten. Man sieht sie in den
       Fernzügen, wie sie zerkratzte 3-Liter-Plastik-[2][Wasserflaschen] wie einen
       Schatz auf ihren Schößen hüten. Einmal habe ich einen jungen Mann gesehen,
       dessen im Rucksack integrierte Wasserflasche die Flüssigkeit mit einer
       Schlauchvorrichtung direkt in seinen Mund führte.
       
       In einem klimatisierten Bekleidungsgeschäft sah ich letztens einen jungen
       Mitarbeiter – an seinem breiten Gürtel ein Karabinerhaken und daran eine
       5-Liter-Wasserflasche. Bei Autofahrten mit 40-Jährigen muss man ständig
       anhalten, weil das überflüssige Wasser, das sie zu sich nehmen, ständig
       wieder ausgeschieden werden muss.
       
       Das Wassertrinken – ist es nur ein Ausdruck des Selbstoptimierungswahns,
       ist es eine Mode oder schon eine Sucht? Vielleicht hilft ein Blick zurück
       in die70er Jahre.
       
       ## Allgegenwärtige Dehydrophobie
       
       Wir haben früher nie Wasser getrunken, noch nicht mal beim Sport, und wir
       hatten auch keinen Durst. Bei uns auf dem Dorf trank kein Mensch Wasser,
       nie. Die Männer tranken bei der Feldarbeit, zum Beispiel beim Heuaufladen
       in der Augusthitze, vielleicht mal ein Bier oder zwei. Wobei Extremhitze
       damals 30 Grad bedeutete.
       
       Aber [3][der Klimawandel] ist nicht schuld an der Wassersucht. Der ganze
       Wasser-Unsinn begann in den 90er Jahren, als die Supermodels statt
       Handtaschen ständig ein neues stranges Accessoire mit sich führten: die
       Wasserflasche einer französischen Marke. Cindy Crawford, Claudia Schiffer,
       Linda Evangelista flöteten in die Kamera: Mein Geheimnis? Ich trinke viel
       Wasser!
       
       Damals wurde das Narrativ in die Welt gesetzt, für gutes Aussehen müsse man
       nur genügend Wasser trinken. Dieser Unsinn hat zur heute weit verbreiteten
       Dehydrophobie, der Angst auszutrocknen, geführt.
       
       Inzwischen lassen sich die Wasser-Junkies schon mit Apps ans Wassertrinken
       erinnern – denn wenn man Durst hat, ist es oft schon zu spät! Was kommt als
       Nächstes? Lassen sie sich nachts einen Tropf legen – denn wer schläft, kann
       nicht trinken?
       
       Immer mehr Ärzte geben zu, dass kaum ein Mensch zwei Liter Wasser am Tag
       braucht. Vergebens. Gegen den Wasser-Lifestyle kommen sie nicht an, es
       steckt zu tief drin. Die Boomerin aber weiß, dass jede Mode mal vorbeigeht.
       Eines Tages werden auch die fanatischsten Wassertrinkerinnen über sich
       selbst lachen.
       
       8 Jul 2025
       
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   DIR Christiane Rösinger
       
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