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       # taz.de -- Migrant*innen in Russland: „Wir sind hier für alle die Sündenböcke“
       
       > Arbeitsverbote, Polizeiwillkür, Alltagsrassismus: Die Situation für
       > Migrant*innen in Russland wird immer unerträglicher.
       
   IMG Bild: Vor einer Passkontrolle in Nowosibirsk im vergangenen April
       
       Moskau taz | Seine Dokumente hat er in einer grünlichen Mappe verpackt. Er
       hat sie immer dabei: Den übersetzten und notariell beglaubigten Pass, den
       Führerschein, die örtliche Registrierung, die Arbeitsbewilligung, die
       Autoversicherung, den Mietvertrag, ja, auch die Eheurkunde und die
       Geburtsurkunden der drei Kinder, ebenfalls übersetzt und notariell
       beglaubigt.
       
       „Man muss auf alles gefasst sein“, sagt Mirsoali. Der Mittvierziger
       reagiert vorsichtig auf Fragen von Fremden. Seinen Nachnamen will er nicht
       nennen, das will dieser Tage ohnehin kaum einer in Russland, wenn er von
       ausländischen Journalist*innen angesprochen wird.
       
       Die Menschen misstrauen allen und allem. Seit Russland den Krieg in der
       Ukraine begonnen hat und Russlands Präsident Wladimir Putin ein repressives
       Gesetz nach dem anderen unterzeichnet, ist die Gesellschaft nahezu
       verstummt. Mirsoali, Taxifahrer aus Tadschikistan, erzählt nach einer
       kurzen Pause von seiner Arbeit, seinem Leben in Russland. „Ich überlege, zu
       gehen. Zu viel Erniedrigung, zu viele Kontrollen, immer die Sorge, dass
       wieder ein neues Gesetz das Leben erschwert.“
       
       S[1][eit am Abend des 22. März 2024 vier Bewaffnete der Terrormiliz
       „Islamischer Staat Provinz Khorasan“ (ISPK) die Konzerthalle Crocus City
       Hall bei Moskau stürmten und mehr als 140 Menschen töteten], sieht Russland
       in jedem Migranten einen potenziellen Kriminellen.
       
       ## Laufend verschärft
       
       In nahezu allen Regionen werden die Migrationsgesetze laufend verschärft.
       [2][Kinder aus Migrantenfamilien, die „nicht genügend“ Russisch sprechen,
       dürfen keine Schule besuchen]. Sind sie aber nicht in der Schule, will der
       Staat die Eltern des Landes verweisen. Dass solche Gesetze gegen die
       russische Verfassung verstoßen und auch gegen die Genfer
       Kinderrechtskonvention, scheint im Land kaum jemanden zu interessieren.
       
       Wer die Sprachtests für Kinder abnimmt und nach welchen Kriterien – auch
       das ist nicht eindeutig geklärt. Die Familien bleiben auf sich allein
       gestellt. Die Digitalisierung erschwert zudem ihr Leben, da das System der
       sogenannten „staatlichen Dienstleistungen“, über die die Bürokratie im
       Land mittlerweile läuft, primär für russische Dokumente gemacht wurde. Bei
       ausländischen Passnummern treten oft unerwartete Probleme auf, die die
       Angestellten in den Behörden nicht lösen können.
       
       Die Liste der Repressionen ist lang. Aufenthaltsgenehmigungen werden nur
       mühsam erteilt. In Moskau und im Moskauer Umland soll in wenigen Wochen
       eine Pflicht-App für Migrant*innen getestet werden, durch die die
       Behörden stets über den Aufenthaltsort informiert werden.
       
       Seit Herbst 2024 gibt es in 51 der mehr als 80 Regionen in Russland
       Arbeitsbeschränkungen für Arbeitsmigrant*innen. Mal dürfen sie nicht in
       Bildungseinrichtungen oder in der Gesundheitsversorgung arbeiten, mal nicht
       als Koch oder Bedienung im Gaststättengewerbe tätig sein. In den meisten
       Orten aber trifft es Taxifahrer und Kuriere.
       
       ## Billige Arbeitskräfte
       
       Erst kürzlich hat die Stadt Sankt Petersburg ein Arbeitsverbot für
       migrantische Taxifahrer und Kuriere eingeführt, die ein sogenanntes
       „Patent“ besitzen. Das ist die Arbeitserlaubnis für alle (mit ein paar
       Ausnahmen), die visafrei nach Russland einreisen dürfen, vor allem für
       Menschen aus ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien.
       
       Das Verbot aber funktionierte nicht. Die örtliche Wirtschaft schlug Alarm,
       die Stadtverwaltung sprach davon, dass die Einführung des Gesetzes „auf
       unbestimmte Zeit“ verschoben worden sei. Auch andere Regionen rudern
       zurück. Denn Arbeitsmigrant*innen sind auch in Russland vor allem
       billige Arbeitskräfte, auf die die Menschen im Land nicht verzichten
       wollen. Laut Statistiken machen sie in manchen Branchen zwischen 50 und 70
       Prozent der Belegschaften aus.
       
       „Für die Leute hier sind wir immer die Sündenböcke. Für Drecksjobs sind wir
       immer gut genug“, sagt der Moskauer Taxifahrer Mirsoali. Wenn der Staat
       jemanden, wofür auch immer, bestrafen wolle, seien die
       Arbeitsmigrant*innen ebenfalls die Ersten, die verdächtigt würden,
       sagt Mirsoali. Vor mehreren Jahren kam er aus Tadschikistan nach Russland,
       wollte hier Geld verdienen, seinen Kindern in der Heimat eine bessere
       Ausbildung ermöglichen.
       
       Er ging erst auf den Bau, arbeitete dann als „Mädchen für alles“ in
       Privathaushalten („Gärtnern, allerlei Reparaturarbeiten, so was“), fing
       schließlich an, Taxi zu fahren. „Ein guter Job eigentlich, aber es wird
       immer schwieriger. Der Rubel ist schwächer geworden, die Kontrollen
       stärker.“
       
       ## Tief verankert
       
       Allen „Wir sind ein Vielvölkerstaat“-Sprüchen zum Trotz: Das Leben als
       „Nicht-Slawe“, wie die Russ*innen sagen, zudem mit einem nicht russisch
       klingenden Namen, war in Russland noch nie einfach. Der Alltagsrassismus
       ist tief verankert in der russischen Gesellschaft. Nordkaukasier*innen
       werden oft als „Schwarzärsche“ beschimpft.
       
       Die Menschen brüllen sie an und werfen ihnen vor, sie verstünden kein
       Russisch. Sie schreien und sagen: „Geh doch zu dir nach Hause!“ Dabei sind
       die Angeschrienen genauso in Russland zu Hause wie die, die sie anschreien.
       
       Auch Nordkaukasier*innen, Jakut*innen, Burjat*innen, Kalmück*innen und so
       viele andere, die angeblich nicht russisch aussehen, sind russische
       Staatsbürger*innen und müssen sich täglich gegen rassistische Sprüche
       und Überprüfungen durch Polizist*innen wehren.
       
       Migrant*innen aus Zentralasien haben es da ungleich schwerer.
       Offiziellen Statistiken zufolge sind etwa neun Millionen legale und
       illegale Migrant*innen im Land, etwa ein Drittel von ihnen soll aus
       Tadschikistan kommen.
       
       „Ich schufte und verhalte mich immer unauffällig. Aber das reicht nicht.
       Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich schon angehalten worden bin“,
       sagt Mirsoali. „Sie sind überall und könnten nach allem möglichen fragen.“
       
       ## 30 Ausweisungen
       
       „Sie“, das sind die Polizisten, die jeden Migranten und jede Migrantin auf
       den Straßen anhalten und alle möglichen Dokumente verlangen können. Immer
       wieder kommt es zu Durchsuchungen von Hostels, wo Sicherheitskräfte
       Migrant*innen vermuten.
       
       Unlängst nahmen Polizist*innen in Moskau 500 Menschen aus Zentralasien
       fest, 30 von ihnen wurden ausgewiesen, da sie sich illegal im Land
       aufgehalten haben sollen. Der Innenminister Wladimir Kolokolzew will „nur
       nützliche Migranten“, wie er kürzlich sagte, keine, die den Job verloren
       oder die Uni-Prüfung nicht bestanden hätten.
       
       Selbst für eine Telefon-Sim-Karte müssen sich nun alle Ausländer*innen
       im Land – auch Tourist*innen – einer Überprüfung der Behörden stellen.
       Die, die im Land leben, brauchen dafür eine Versicherungskontonummer, die
       der Pensionsfonds ausstellt, müssen im digitalen „staatlichen
       Dienstleistungen“-Register angemeldet sein und biometrische Daten bei einer
       Bank abgegeben haben. Ein Gesetz verpflichtet alle Ausländer*innen
       dazu, sonst wird die vorhandene Nummer abgestellt, eine neue nicht
       erteilt. In speziellen Zentren, meist am Rande der Städte, müssen sie die
       Dokumente überprüfen lassen.
       
       In einem solchen Zentrum in Moskau verteilen sich Hunderte Menschen auf
       vier Etagen. „Hey, raffst du es nicht auf Russisch?“, brüllt eine
       Angestellte einen Usbeken an.
       
       Jedem hier wird gezeigt, dass er nicht willkommen ist. „So werden wir immer
       behandelt, als Störenfriede, nicht als Menschen“, sagt ein Doppelstaatler,
       der einst aus Tadschikistan kam, mittlerweile aber russischer Staatsbürger
       ist und seinen russischen Pass neu beantragen muss. Wichtig für die
       Angestellte ist, dass er seinen Wehrpass dabei und sich auch bei der
       Militärbehörde gemeldet hat.
       
       Der Mann kramt in seiner Dokumentenmappe. „Man muss hier auf alles gefasst
       sein“, sagt er – genau wie Mirsoali, der mit seinem gelben Taxi bereits
       zum nächsten Auftrag unterwegs ist.
       
       12 Aug 2025
       
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