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       # taz.de -- Merz im Sommerinterview: „Ein bisschen überfordert“
       
       > Knapp 70 Tage ist Friedrich Merz im Amt. Seine Regierung in der Krise. Im
       > ARD-Sommerinterview hat er nur zweimal Grund zu lächeln.
       
   IMG Bild: Nach 70 Tagen im Amt und einer verpatzten Richterwahl hat Merz' Image als Macher Risse
       
       Berlin taz | Friedrich Merz ist der Missmut deutlich anzusehen. Die
       Augenbrauen zeigen nach unten genauso wie die Mundwinkel. Eine
       Viertelstunde reitet Moderator Markus Preiß im ARD-Sommerinterview am
       Sonntagabend [1][auf der vermasselten Verfassungsrichter:innenwahl
       vom Freitag] herum, die Hälfte der Sendezeit. Am Freitag schrammte die von
       Merz geführte schwarz-rote Koalition knapp am Totalschaden vorbei. Die
       lange verabredete Wahl von drei Verfassungsrichter:innen wurde wegen
       fehlender Mehrheiten in der Union für eine der Kandidatinnen in letzter
       Minute vertagt.
       
       Alle Versuche von Merz, das Thema beiseite zu wischen, „ist nun wirklich
       kein Beinbruch“, „die meisten Menschen nehmen das nur aus dem Augenwinkel
       wahr“, fruchten nichts. Preiß bleibt hartnäckig und Merz blickt den
       Moderator bald an wie eine lästige Schmeißfliege.
       
       Zwei Dinge will der Kanzler im Interview, das auch eine Bilanz seiner
       ersten 70 Tage zieht, um jeden Preis vermeiden: Sich auf irgendeine
       konstruktive Lösung festlegen, bei der ihm die eigene Fraktion womöglich
       wieder nicht folgt. Und den Eindruck erwecken, dass dieses Desaster an ihm
       persönlich klebenbleibt.
       
       Doch genau diesen Eindruck hinterlässt die Richterwahl. Denn jetzt ist der
       Beginn von Merz Kanzlerschaft vor rund 70 Tagen wieder ganz präsent:
       [2][Seine Wahl zum Kanzler, die im ersten Wahlgang scheiterte.] Wer die 18
       Abgeordneten der Koalition sind, die nicht für Merz stimmten, ist nach wie
       vor unklar, doch unwahrscheinlich ist, dass alle in der SPD-Fraktion
       sitzen. Merz, der als Kanzler mit Kratzer startete, geht nun mit deutlicher
       Delle in die Sommerpause. Einer, dem Teile der eigenen Fraktion nicht
       folgen.
       
       ## Konstruktive Vorschläge macht Merz lieber nicht
       
       Führungsversagen? Teile er nicht, versucht Merz die Preiß-Schmeißfliege
       loszuwerden. Vielmehr hätte es auch in der SPD Vorbehalte gegen die von der
       SPD vorgeschlagene Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf gegeben – und
       Merz führt als Kronzeugin die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt
       an, die nebenbei bemerkt seit vier Jahren nicht mehr Bundestagsabgeordnete
       ist. Und ach ja, die Grünen, die hätten in der letzten Legislatur auch mal
       einen Vorschlag der Union abgelehnt. Der allerdings gar nicht mit ihnen
       abgestimmt war, aber das erwähnt Merz natürlich nicht.
       
       Kein Wort sagt Merz trotz mehrfacher Nachfrage dazu, ob man
       Brosius-Gersdorf zur Anhörung in die Unionsfraktion einladen oder ob sie
       ganz zurücktreten sollte. Wobei sich die Frage stellt, warum
       Unions-Fraktionschef Jens Spahn eine solche Einladung nicht viel früher
       aussprach, als sich andeutete, dass eine höhere zweistellige Zahl von
       Unionsabgeordneten Brosius-Gersdorf durchfallen lassen wollte. Was sie in
       deren Augen unwählbar macht: Die Juristin befürwortet eine Legalisierung
       von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten 12 Wochen, will also die
       geltende Praxis, die straffrei, aber formal Unrecht ist, legalisieren. Die
       einen nennen das extremistisch, die Mehrheit der Bevölkerung: pragmatisch.
       
       Zwei Tage nach der gescheiterten Wahl wirkt der Kanzler im Interview
       genauso planlos wie sein Fraktionschef in der Woche zuvor. Ideen, wie man
       den selbstverschuldeten Beinah-Crash hinter sich lässt, präsentiert er
       jedenfalls nicht. Außer, dass man es besser machen wolle.
       
       ## Merz spielt weiter auf der populistischen Klaviatur
       
       Der Optimismus, dass ihm das gelingt, bleibt nach dem Sommerinterview
       begrenzt. Denn Merz will oder kann nicht erkennen, welchen Gefallen die
       Union den Rechtsextremen getan hat. Die AfD hat genau solche Kulturkämpfe
       um Gender oder eben Abtreibung in ihrem geleakten Drehbuch beschrieben, um
       die gesellschaftliche Mitte zu spalten und den Weg für schwarz-blaue
       Mehrheiten zu ebnen. Das ist ihr am Freitag fast geglückt.
       
       Und Merz spielt, ganz im Stile der ganz Rechten, munter weiter auf der
       populistischen Klaviatur, da bleibt der Kanzler dem Oppositionsführer von
       vor drei Monaten treu. Er kündigt harte Kürzungen beim Bürgergeld an, das
       bald neue Grundsicherung heißen soll, sowohl bei den Sätzen als auch bei
       den Kosten der Unterkunft. Und führt dann wieder so ein Beispiel aus dem
       Merz'schen Kosmos an, bei dem unklar ist, aus welcher Galaxie es stammt: Es
       gebe Bürgergeldempfänger:innen, die in 100qm-Wohnungen lebten und
       2000-Euro-Miete vom Staat erstattet bekämen, behauptet Merz. Das könnten
       sich normale Arbeitnehmer nicht leisten, daher kämen auch die Spannungen in
       der Gesellschaft.
       
       Das Problem sind laut Merz also nicht die Wuchermieten, die Vermieter in
       Ballungszentren fordern, sondern die Bürgergeldempfänger, die in zu teuren
       Wohnungen wohnen. AfD-Chefin Alice Weidel hätte sicher nichts zu meckern.
       
       Aber ob das die geeignete Erzählung ist, um die Sozialdemokraten zu
       Kompromissen bei den angekündigten Reformen der Sozialsysteme zu bewegen,
       wo nach Aussage von Merz auch Leistungskürzungen zu diskutieren sind? Wohl
       kaum. Den treffendsten Satz sagte er übrigens gleich zu Beginn des
       Sommerinterviews: „Wir haben uns vielleicht alle etwas überfordert.“
       
       Etwas überfordert, genau so wirkt auch der Kanzler.
       
       14 Jul 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
       
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