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       # taz.de -- Kunst und Ökologie: Holunder, Hortensien oder Dill
       
       > Der rumänische Künstler Stefan Bertalan erforschte Pflanzen. Eine Schau
       > im Badischen Kunstverein in Karlsruhe erinnert an ihn.
       
   IMG Bild: Stefan Bertalan, Diapositiv Nr. CNV000018, ca. 1970–1980
       
       Fragen der Ökologie erscheinen der Politik wider besseres Wissen derzeit
       zweitrangig. In der Welt der Kunst steht das Thema weiterhin auf der
       Agenda. So wundert es nicht, dass der Badische Kunstverein in Karlsruhe
       sich des Themas annimmt.
       
       Überraschend ist aber, dass eine speziell für Karlsruhe kuratierte Schau
       des wiederentdeckten rumänischen Avantgardekünstlers Stefan Bertalan
       möglich wurde. Ihr Titel „Ich habe 130 Tage mit einer Sonnenblume gelebt“
       sagt alles über den Künstler. Er bezieht sich auf Arbeiten aus den 1970ern
       und belegt den Respekt, den Bertalan seinem Gegenstand entgegenbrachte –
       ein Ansatz, der heute wieder aufgegriffen wird.
       
       Hunderte von Zeichnungen und Fotografien zeugen von der universalen Bildung
       Bertalans, von seinem Interesse an Kybernetik, Bionik und Informatik,
       Wissenschaftsgebieten, die in den 1960ern neu waren. Der 1930 in
       Transsilvanien Geborene suchte mit solchen Modellen im Kopf nach
       übergreifenden Mustern und Systemen natürlicher Formen.
       
       ## Kandinsky, Klee und Vasarely
       
       Inspiriert von Wassily Kandinsky, [1][Paul Klee] und Victor Vasarely,
       konstruierte er kristalline Formen, die sich jedoch nur als Grundlage einer
       sehr viel umfassenderen Forschungsarbeit und Reflexion erwiesen. Bertalan
       lehrte zunächst an einem Gymnasium in Timișoara, wo er eine an das Bauhaus
       angelehnte, interdisziplinäre Lehrmethode einführte. Seit 1970 wirkte er am
       Fachbereich Architektur der Universität und wurde zur zentralen Figur der
       Kunstszene.
       
       Die Naturwissenschaften als Ansatzpunkte der Kunst waren offenbar in der
       Ceauşescu-Diktatur unverdächtig. Lange konnte Bertalan ungehindert seiner
       künstlerischen Arbeit nachgehen. Er gründete nacheinander zwei
       Künstlergruppen, mit deren Mitgliedern er neue Wege beschritt.
       
       Diese Freiheit endete für ihn 1981, nachdem er einen Ausreiseantrag
       gestellt hatte. Er wurde aus seinen Ämtern entfernt und musste aufs Land
       ziehen. Die Isolation verstärkte seine ohnehin schon intensive Zwiesprache
       mit der Natur. 1986 emigrierte er nach Deutschland, wo er bis 2012
       zurückgezogen in Öhringen bei Heilbronn lebte.
       
       ## Bleistiftzeichnungen und Fotografien
       
       Er befasste sich mit den Blütenständen des Holunders, von Hortensien oder
       Dill, den Strukturen von Blütenblättern und von Samenständen. Er begann zu
       beobachten, wie Pflanzen und Insekten auf ihr Umfeld reagieren. Was er sah,
       hielt er in Bleistiftzeichnungen und Fotografien fest, die
       Kunstvereinsleiterin Anja Casser für die Karlsruher Ausstellung zu neuen
       Serien zusammenstellte.
       
       Die Exponate stammen aus dem Nachlass Bertalans, der von der Galerie Esther
       Schipper betreut wird, und aus einer Münchener Privatsammlung. Anja Casser
       kämmte nahezu das gesamte Werk nach Korrespondenzen durch, die Aufschluss
       über seine Arbeitsweise geben: „Wir wollten verstehen, wie Stefan Bertalan
       sich den Pflanzen forschend und künstlerisch genähert hat, und warum seine
       Kommunikation mit der Natur auf Augenhöhe bis heute noch aktuell ist.“
       
       In seinen späten Zeichnungen haben Kartoffeln, Zwiebeln oder Blätter
       plötzlich Augen oder Beine. Manche dieser Zeichnungen werden zum Spiegel
       seiner Befindlichkeit. „nur wurzeln bin ich noch“ kritzelte er auf ein
       Blatt, auf dem er mehrere anthropomorphe Figuren skizzierte.
       
       ## Künstler und Pflanzen verschmelzen
       
       Die schlanken, sich tänzerisch windenden Stauden mit Blätterkleid wirken
       illustrativ, als suche der Künstler nach einem Bild für seine veränderte
       Identität als [2][Bruder der Pflanzen.] Überzeugender gelang Bertalan die
       Verbildlichung seiner Identifikation mit der Welt der Pflanzen in einer
       Fotoarbeit, bei der sein Antlitz mit einem bereits gelichteten Fruchtstand
       einer verblühten Sonnenblume verschmilzt.
       
       Die Vorstellung, dass sich Menschen mit Pflanzen identifizieren, erscheint
       absurd. Und doch gewann [3][die koreanische Schriftstellerin Hang Kang] mit
       ihrem Roman „Die Vegetarierin“ voriges Jahr den Literaturnobelpreis. Er
       erzählt von einer jungen Frau, die zum Entsetzen ihres Umfelds aufhört
       Fleisch zu essen und das Bewusstsein einer Pflanze entwickelt. Bertalan
       hätte das Buch gefallen.
       
       23 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Carmela Thiele
       
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